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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Gegen neun Uhr Abends fand sich Herr Bailly ein, welcher seine Rolle als Ceremonienmeister ungemein ernsthaft durchführte, und zeigte uns an, daß das Ballet bereit sei und man nur noch uns erwarte. Er führte uns in ein benachbartes Haus. Der innere Hof war reichlich mit Blumen geschmückt und erleuchtet. Jeder Orangenbaum trug statt der Früchte Lampen, jeder Lorbeerbaum war mit Rosen von buntem Glas behangen. Die Gesellschaft war zahlreich. Auf den Balkons erwarteten mehrere Señoras, welche sorgfältig verschleiert und in geheimnißvolle Mantillen eingehüllt waren, schweigend die Zeit, wo sie ein nach der Sitte ihnen verbotenes Vergnügen genießen sollten. Ueber dem Hofe den Blumen, den Lampen, den Balkonen und den Mantillen erblickte man gleich einer mit Perlen gestickten Zeltdecke den mit Sternen besäeten Himmel. Bei unserm Eintritte gab das Orchester, welches aus einer Violine, einer Guitarre und aus einem Sänger bestand, das Zeichen zum Anfang und vier Tänzerinnen,im Costüme der Majas, kurzer Rock mit Goldflimmern verziert, seidene Strümpfe, gelbe Schuhe, hüpften unter dem Klange der Castagnetten in die Vorhalle, in Begleitung von vier Andalusiern in seidenen Beinkleidern. Die Cachucha, welche sie sehr lebhaft ausführten, erinnerte mich an den Tanz, welchen vor einigen Jahren die Dolores Seral zuerst im Théatre des Variétés sehen ließ, doch war dieses nur ein Vorspiel. Es trat eine Pause ein und eine der Tänzerinnen trat langsamen Schrittes allein hervor in die Mitte der Vorhalle. Sie hieß Carmen. Ein Mädchen von sechszehn Jahren.

Bleich, wie im Herbst ein schöner Abend,

klein und schmächtig, mit großen schwarzen Augen, ebenso feurig als sanft, wenn es gestattet ist, diese beiden unvereinbar scheinenden Worte zusammenzustellen, um dieses spanische Auge zu bezeichnen, zugleich glänzend und verschleiert, worin Traurigkeit und Leidenschaft, Aufforderung und Schmachten mit einander kämpfen. Sie war mit einem rothen Rocke bekleidet; ihre Arme, obwohl noch von einiger jugendlicher Magerkeit, waren doch höchst graziös; sie hatte einen schönen Fuß, und überhaupt war sie sehr hübsch vom Kopf bis zum Fuß.

Als sie in der Mitte des Tanzplatzes ankam, erhob sie langsam ihre Arme, und ließ die Castagnetten ertönen. Die Musik begann sogleich eine der langsamen und einfachen Melodieen, deren einziger Gedanke sich unaufhörlich wiederholt, von unbeschreiblich naiver Anmuth, welche ohne Zweifel die Gesänge uralter Zeit waren, und noch jetzt die Völker des Orients bezaubern. Carmen begann, fast ohne sich zu bewegen, eine jener wollüstigen Pantomimen, die an die Tänze der Bajaderen und der Almees erinnern. Im ganzen Orient, von Madras bis nach Kairo und Sevilla, spricht der Tanz dieselbe Sprache, und drückt durch fast gleiche Zeichen die gleichen Gefühle aus. Augenscheinlich bietet Andalusien durch seine Tänze noch mehr Erinnerung an das Morgenland dar, als durch sein Costüme. Abgesehen davon, daß Carmen ihre bleiche Stirn nicht mit goldnen Zecchinen geschmückt und ihre schlanke Taille nicht mit einem durchsichtigen Flor bedeckt hatte, wäre sie nach ihren Stellungen, ihren Blicken, ihren Bewegungen in Egypten eine Almee, in Indien eine Bajadere gewesen. Die Einbildungskraft, welche nicht unterläßt, diese stummen Pantomimen sich zu erklären, konnte leicht schon allein in der Physiognomie der Carmen Erinnerungen aus Asien finden, Träume in der Einsamkeit der Wüste, Begegnungen im Schatten einer Oase, Liebe unter einem Zelte, Anreizung und Widerstand, alles dieses und noch tausend andere Dinge konnte man sich vorspiegeln. Weshalb auch nicht? Warum sollte der Tanz, der zu jeder Zeit wie die Musik eine Sprache für die Empfindung war, nicht auch den Gedanken ausdrücken, der ihn begeistert? Die Musik hat es gewagt, den Sonnenaufgang zu schildern, den Marsch der Karavanen, selbst die Entdeckung der neuen Welt.

Uebrigens schien die schöne Tänzerin sich selbst an dem Feuer des Gedichts zu entzünden, dessen verschiedene Strophen sie vor uns darstellte. Ihr Blick belebte sich, ihr Körper bewegte sich in graziösen Wendungen, ihr Teint, vor Kurzem noch so bleich, röthete sich, bald mit feurigem Auge die Luft begierig einathmend, schien sie Jemand zu suchen, und stampfte mit dem kleinen Fuße auf den Boden, als wollte sie den Geliebten herbei rufen, und da er nicht erschien, kam sie gerade auf mich zu, schoß auf mich einen feuertrunkenen Blick, der mich bezauberte, und warf mir mit dem Anstand einer Sultanin ihr Taschentuch zu. Sogleich ertönte ein allgemeiner Wirbel der Castagnetten von allen Sitzen und allen Händen, und die entzückten Zuschaner riefen aus: „salero, salero!“ (eigentlich Salzfaß, ist als Zuruf der Bewunderung und Aufmunterung üblich.) Die Rolle eines Pascha setzte mich ein wenig in Verlegenheit. Carmen verweilte noch auf dem Platze mir gegenüber, als wollte sie ihre schöne Gestalt noch länger bewundern lassen, dann schritt sie, verführerisch wie eine Fee, vorwärts, und trat plötzlich wieder zurück, um die Zuschauer in die Rolle des Tantalus zu versetzen. Sie schien verwandelt, elektrische Funken sprühten aus ihren großen schwarzen Augen, und als sie besiegt, entwaffnet sich auf ein Knie niederließ, als wolle sie sich unbedingt ergeben, hätte sie auch den bejahrtesten Sultan bezaubert; allein sogleich hörte die Musik auf, Carmen erhob sich nachlässig, ihre Hände schlossen sich, ihre Blicke erloschen, ihre Blässe erschien wieder, und sie setzte sich ganz ruhig, ganz blöde an die Seite ihrer Mutter auf die Kniee ihrer Schwester. Die Bacchantin war verschwunden, und Carmen war nur noch eine arme Arbeiterin aus der Tabaksfabrik.

Es ist merkwürdig, wie leicht die menschlichen Gesichtszüge bei ihrer Beweglichkeit sich zu alle den Umwandlungen hergeben, welche die Kunst des Mimen ihm zur Pflicht macht. Ich werde nie vergessen, wie ich eines Abends in einer Gesellschaft in Paris neben Demoiselle Rachel saß, und eben mit ihr gesprochen hatte. Als ich mich wieder zu ihr wendete, sah ich auf einmal ihr Gesicht so verändert, daß ich darüber ganz betroffen war. Man hatte die Künstlerin gebeten, Verse aus der Phädra zu declamiren, und sie hatte die Physiognomie dieser Rolle in einer Secunde dergestalt angenommen, daß sie kaum zu erkennen war. Carmen, obgleich weniger eingeschult, verstand doch etwas von dieser Kunst, und das Talent dazu war bei ihr um so auffallender, je weniger man es erwarten durfte. Werden Sie übrigens wohl glauben, daß diese jungen Mädchen von Sevilla, welche vor Ihnen für einige Douros die Ole, die Gitana und andere eben so verrufene Tänze aufführen, von einer makellosen Tugend sind, welche den lockendsten Anerbietungen widersteht? Und doch ist dieses durchaus wahr, es gibt davon Beispiele in Menge, und diese Anomalie gehört zu den sonderbaren Eigenthümlichkeiten des weiblichen Charakters in Spanien.

Zu derselben Zeit, wo ich Andalusien bereiste, befand sich die berühmteste Tänzerin von Sevilla in England. Ein Capitain der englischen Marine war von ihrer Schönheit so eingenommen, daß er, nachdem er Haufen von Gold vergebens ihr zu Füßen gelegt hatte, zuletzt ihr seine Hand anbot. Das junge Mädchen hatte endlich eingewilligt, in Begleitung ihrer Mutter ihm nach London zu folgen, allein dort zeigte sich ein unbesiegbares Hinderniß. Die Tänzerin aus dem katholischen Spanien weigerte sich durchaus, einen Protestanten zu heirathen, und ich weiß nicht, wie die Sache noch ausgegangen ist. Was mich anlangt, so begnügte ich mich damit, das Tuch der Carmen mit der vollkommensten Selbstbeherrschung zurückzugeben. Die Boleros, die Fandangos dauerten bis Nachts ein Uhr fort, und ich kehrte sehr zufriedengestellt nach dem Hotel zurück.




Blätter und Blüthen.

Das Passeyerthal und Hofer’s Wohnhaus. Das Gebirge besteht hier aus lauter Geröll und Conglomerat; es gleicht einem harten Teige, in den eine ungeheuere Masse von Steinen hineingeknetet ist. Sobald nun der Regen diese lockeren Abhänge auflöst, entstehen Erdstürze und Schlammströme. Die Bewohner dieses Thales, wenigstens die Männer, sind schön und stark; durch einen gewissen Stolz und eine ritterliche Haltung, die man jetzt bei den Bergvölkern selten findet, zeichnen sie sich vor ihren Nachbarn aus. Im Oetzthale hörten wir, daß die Passeyer so gesund und frisch seien, weil die Luft und die Quellen so rein wären. Doch wollte es uns bedünken, als ob die Erinnerung an ihre Kriegsthaten unter Hofer diesen einfachen Menschen einen edlen Stolz einflöße. Auch grüßten sie keineswegs so zuvorkommend und freundlich, wie wir es in anderen Thälern gewohnt waren, ein Zeichen ihres Selbstbewustseins. Häßlich war der Kopfputz der Weiber, ein turbanähnlicher Wulst von Wolle; ihre Strümpfe waren in allen Dörfern roth. Nachdem wir etwa 4 Stunden zurückgelegt hatten, betraten wir das Dorf St. Martin, dessen Häuser unsere Aufmerksamkeit


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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_623.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)