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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

No. 46. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Felicitas.

Eine Erzählung vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)

Sie war arm, sie hatte nichts. Ihrem Vater, einem alten preußischen Invaliden, hatte die Regierung die Fähre zum lebenslänglichen Genuß umsonst übergeben. Zu jener Zeit war sie viel benutzt und einträglich gewesen. Nachher war die Franzosenzeit gekommen. Man hatte den alten Invaliden in seinem Besitzthume gelassen. Aber es waren rechts und links neue Chausseen und über den Fluß neue Brücken angelegt, so daß die Fähre mehr und mehr vereinsamte und zuletzt nur noch den Bewohnern der nächsten Dörfer hüben und drüben zu ihrem beschränkten Verkehr diente. Der alte Rose hatte seitdem mit seiner Familie, wenn auch nicht gedarbt, doch nur ein sehr spärliches Auskommen gehabt. Er war älter und hinfälliger geworden. Die letzten Tage, der nach so langen Leiden erfolgte Tod der ältesten Tochter, hatten ihn ungewöhnlich angegriffen. Er konnte nach aller Voraussicht nur noch kurze Zeit leben. Was sollte dann aus ihr werden? Sie stand dann allein in der Welt; allein mit dem Kinde ihrer Schwester, wenn das Kind den Großvater überlebte. Sie hatte keine nähern Verwandten. Ihr einziger Bruder hatte französischer Soldat werden müssen, war mit der großen Armee nach Rußland marschirt, aber mit den traurigen Ueberbleibseln dieser Armee nicht zurückgekehrt. Der junge Bauer warb um sie. Er war ein braver Mensch; er hatte sein gutes Auskommen, sogar sein sehr gutes. Er liebte sie.

Sie war ihm von Herzen gut. Aber lieben, wieder lieben konnte sie ihn nicht. Sie sprach das Wort lieben wohl nicht aus, auch nicht in ihren Gedanken. Es war ihr vielleicht noch nicht einmal klar, worin der Unterschied bestehe, Jemandem herzlich gut sein und ihn lieben. Aber wenn sie dann dachte, daß sie ihn heirathen müsse, daß sie ihm ganz und gar angehören solle, dann wurde es ihr so ganz besonders leer und weh im Herzen, und darauf wieder so schwer auf der Brust, als wenn sie allein in der Mitternacht über eine weite, weite graue Heide gehen müsse, an deren Ende ein tiefes, einsames Grab sei, in das sie sich hineinlegen solle. Vor dem Wasser fürchtete sie sich nicht, nicht allein, nicht in dunkler Mitternacht, wenn der Wind heulte und der Strom brauste. Aber auf der weiten, dürren Heide! Und warum war ihr so, wenn sie an den braven und liebenswürdigen jungen Menschen dachte? Sie wußte es nicht. Sie konnte es sich nicht sagen. Sie hatte nichts an ihm auszusetzen. „Aber es kann nicht sein, ich soll kein Glück haben,“ sagte sie mit einer wehen, in die unendliche Ferne schweifenden Sehnsucht. Dann mußte sie weinen, aber wenn ihr die Thränen kamen, fand sie keine Erleichterung; es wurde ihr schwerer um das Herz und sie mußte doch zuletzt immer wieder an die weite, graue Heide und an das einsame Grab am Ende der Heide denken.

Sie träumte oft so, am liebsten, wenn sie einsam in ihrem Nachen auf dem Wasser fuhr, am meisten, wenn sie in stürmischer Nacht so fuhr. Der Sturm war ihr Liebling geworden.

Sie träumte auch jetzt so. Sie fühlte den Regen nicht, der sie durchnäßte, den Wind nicht, der sie durchkältete. Der Sturm und der Regen, sie waren ja ihr Liebling, und die tiefe Dunkelheit. Und auch dunkel war es um sie her. Nur die Laterne vor ihr leuchtete und die Lampe in dem Fährhause ihr gegenüber warf einen schwachen Schein durch das kleine Fenster. Sonst überall Finsterniß. Der Himmel war von dicken, undurchdringlichen Nebelwolken überzogen. Das Dorf, an dessen äußerstem Ende, vom nächsten Nachbar eine halbe Viertelstunde entfernt, die Fähre lag, war durch die Weiden an dem sich krümmenden Flusse bedeckt; kein Lichtschimmer konnte von dort herüber dringen. Jenseits des Wassers war eine weite Ebene mit einer kleinen, unbebauten Anhöhe, und die Weiden, die auch am anderen Ufer standen, ragten wieder hoch empor und ließen nur den mit Wolken bedeckten Himmel sehen, wenn er in der Finsterniß zu sehen war. Dort oben, von woher der Strom kam, lag auf einem anmuthigen Berge wohl ein großes, schönes, glänzendes Fürstenschloß, das bei hellem Tage mit seinen weißen Mauern, hellen Fenstern, hohen Thürmen und blanken Kuppeln stolz und weit in das Land hineinblickte. Aber auch von ihm sah man jetzt nichts. Im finstern Sturme erbleicht auch der hellste Glanz des stolzesten Fürstenschlosses. Das Schloß war längst unbewohnt. Sein Besitzer war ausgewandert nach Rußland, um sich vor dem stolzen Emporkömmling, der außer England und Rußland die Welt beherrschte, nicht noch beugen zu müssen.

„Muß ich denn so früh dahinsterben?“ rief das Mädchen schmerzlich aus.

Auf einmal drang ein heller Lichtschein in ihr Auge. Auf der höchsten Kuppel des fürstlichen Schlosses loderte ein Feuer empor. Die zurückgebliebenen Diener des Fürsten feierten wohl die Befreiung des Vaterlandes.

„Gott im Himmel, gibst Du mir ein Zeichen? Soll ich doch leben, glücklich werden?“

Aber der wilde Sturm hatte das Licht auf der Höhe des Fürstenschlosses ausgelöscht, wie sie kaum diese Worte gesprochen hatte.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 625. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_625.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)