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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Nein!“

Da vernahm sie wieder einen Klagelaut, ein leises Jammern, ein unterdrücktes Rufen um Hülfe, in den Weiden, die da unten am Wasser standen. Sie hörte es deutlich.

„Das ist nicht der Geist der Schwester. Das ist eine menschliche Stimme. Da ist Hülfe nöthig. Der arme Mensch! Schon vor zwei Stunden rief er.“

Sie nahm die Laterne und sprang aus dem Kahn. Das muthige Mädchen ging furchtlos zu den Weiden. Ein leises Wimmern leitete sie. Sie hörte es pausenweise, immer leiser. Als dort, woher es kam, ihr Schritt gehört, der Schein ihrer Laterne gewahrt werden konnte, verstummte es ganz. Aber die Stelle, von der es kam, hatte sie sich fest gemerkt. Sie öffnete die Zweige eines weiten dichten Weidenstrauches. Sie leuchtete mit ihrer Laterne hinein. Sie wollte entsetzt zurückfliegen. Sie wich einen Schritt zurück, aber trat schnell wieder vor.

„Erbarmen,“ sagte eine Stimme.

Der Schein der Laterne fiel auf einen Mann in der Uniform eines französischen Grenadiers, ein zum Entsetzen bleiches, abgezehrtes Gesicht. Der linke Arm, mit blutigen Tüchern umwunden, lag in einer Binde. Der ganze Körper lag erschöpft, zusammengekauert in den nassen Zweigen der Weide, an der nassen, kalten Erde; zusammengekauert vor Frost, vor Hunger, Durst, Schmerz.

„Erbarmen,“ sagte noch einmal der Mann, als er das Mädchen vor sich sah. „Erbarmen! Ich sterbe vor Durst und Hunger!“

„Ich komme wieder; seid ruhig,“ sagte das Mädchen. „Ich komme gleich wieder.“

Sie eilte in das Haus. In der Küche hatte sie Milch, in einem Schranke in der Stube Brod. Sie ging in die Stube, das Brod zu holen. Das Kind war wach, es rief sie zu sich.

„Muhme Felicitas, ich fürchte mich. Der Großvater ist so eigen.“

„Schlafe, mein Kind. Dir wird er nichts thun. Er liebt Dich und Du bist brav.“

„Er verlangt immer nach seinem Degen. Er will alle Leute umbringen.“

„Sei Du nur ruhig. Er wird Dir nichts thun.“

Der alte Mann lag noch im Bette. Er hatte es in seiner Hinfälligkeit schon seit Wochen nicht verlassen können. Er hatte das Mädchen kommen hören.

„Da ist der Kerl,“ rief er laut, mit einer kreischenden, wüthenden Stimme, „der mir mein Kind verführt, der mich angespuckt hat. Ja, ja, jetzt bist Du elend. Jetzt bist Du es. Jetzt bittest Du um Erbarmen, um das Leben. Aber Du mußt sterben, Hund! Ihr Alle müßt daran, Ihr Franzosengesindel. Meinen Säbel, meinen Säbel! Der Hund muß sterben, von meinen Händen.“

Das Mädchen schauderte. Sie ging an das Bett, ihn zu beruhigen.

„Es ist ja kein Mensch hier, Vater, Ihr träumt. Beruhigt Euch.“

Der alte Mann wurde wüthender.

„Kein Pardon, Du Schurke! Ihr habt auch uns keinen Pardon gegeben. Meinen Säbel!“

Er wollte aus dem Bette springen. Der kranke, hinfällige Greis fiel kraftlos zurück. Er wurde ruhig. Aber er war völlig wahnwitzig. Und hatte er in seinem irren Geiste den Armen gesehen, dem sie jetzt Hülfe, Labung, das Leben bringen wollte? Das Mädchen schauderte noch einmal. Aber sie mußte fort. Sie mußte den Wahnsinnigen verlassen. Sie mußte das hülflose Kind mit ihm allein lassen, mußte einem andern Hülslosen das Leben retten. Sie nahm Brod aus dem Schranke, Milch aus der Küche und flog zu der Weide am Wasser zurück.

„Hier, hier, stärkt Euch!“

Der Verwundete langte sehnsüchtig nach der Milch. Er trank sie in langen Zügen. Wie labte sie ihn! Er langte nach dem Brode. Wie erquickte es ihn! Die Laterne beschien wieder voll sein Gesicht. Die wahnwitzige Rede hatte einen entsetzlichen Gedanken in dem Mädchen geweckt. Sie blickte scheu in das Gesicht, dessen tödtliche Blässe sie vorhin nur gesehen hatte. Nein, dieses feine, jugendliche Gesicht, mit den großen, schwarzen Augen, die sich wieder belebten, konnte keinem Bösewicht, keinem herzlosen Verführer angehören. Das sagte ihr Herz ihr. Und ihr Herz sagte ihr auf einmal noch mehr. Was? Konnte sie es deutlich verstehen unter seinem plötzlichen, ungestümen Klopfen? Aber klar stand das helle Licht vor ihr, das auf der Kuppel des Fürstenschlosses aufgeflammt hatte, und sie sah es jetzt fort und fort brennen, und es verlöschte nicht wieder vom plötzlichen Sturme, und in dem hellen, glänzenden Lichte glänzte das bleiche Gesicht des verwundeten jungen Franzosen immer frischer und lebendiger. Und auch der junge, brave Bauer erschien darin, aber er verschwamm und verschwand immer mehr in dem leuchtenden Glanze des Anderen, der immer strahlender wurde. So träumte sie. – Die Liebe zum Leben ist groß. Das Leben ist süß. Der verwundete Franzose hatte sich erquickt, gelabt. Er versuchte sich zu erheben. Es gelang ihm mühsam. Er konnte aufrecht stehen, aber nur gestützt auf einen Stab, den er bei sich trug. Waffen führte er nicht mehr. Er sah sehnsüchtig hinüber nach der andern Seite des breiten, reißenden Stroms.

„Jenseits erst ist der Rhein! Noch so weit!“

„Ihr wollt über den Strom?“ fragte ihn das Mädchen.

„Dort liegt meine Heimath!“

„Aber Ihr kommt nicht weiter. Ihr seid zu schwach.“

„Jenseits fände ich vielleicht Cameraden, die mich unterstützten.“

„Und wenn Ihr sie nicht fändet?“ fragte das Mädchen.

„O, ich stürbe doch immer näher meiner geliebten Heimath.“

„Ja, Ihr würdet sterben. Wißt Ihr, daß überall das Volk Jagd macht auf verwundete Franzosen?“

„Ich weiß es. Wir sind gehetzt bis hier. Meine Cameraden kamen weiter. Mich mußten sie hier zurücklassen.“

In das Gesicht des Mädchens stieg eine Zornesgluth.

„Thun Sie ihnen kein Unrecht,“ rief rasch der Franzose. „Mit Gefahr ihres Lebens hatten sie mich hundert Meilen weit geführt, getragen, für mich gehungert. Hier konnte ich nicht weiter. Die Verfolger waren hinter uns. Sie wollten mich nicht verlassen. Ich beschwor sie vergebens. Ich zwang sie. Sie mußten. Ich wollte sterben. Aber das Leben ist süß, Mademoiselle, Sie haben mich gestärkt. Und auch das Vaterland ist süß. Was ist das Leben ohne das Vaterland? O, Mademoiselle, meine Kräfte sind zu schwach, den Fluß zu durchwaten; mit diesem zerschossenen Arm kann ich ihn nicht durchschwimmen. Könnten Sie mich hinüberschaffen?“

Wie süß ist das Vaterland! Die Worte hatten dem Mädchen einen tiefen Stich in das Herz gegeben. Sie sah den blassen Mann an, der, um sich nur aufrecht halten zu können, der Stütze seines Stocks bedurfte. Sie dachte an den Vater, der in seinem Wahnwitz jeden Franzosen erschlagen wollte. Sie dachte an die verführte, heute zum Grabe getragene Schwester. Sie sah wieder das schöne, weiße Gesicht des verwundeten, schwachen fremden Kriegers und wollte weinen. Aber sie war ein starkes, kräftiges und ein reines, edles Herz.

„Nein, Ihr kommt nicht fort. Ihr müßtet vor Hunger umkommen, oder sie würden Euch erschlagen.“

„Ich werde mitleidige Herzen finden.“

„Jetzt nicht. Jetzt sind sie Alle in Zorn, in Wuth. Sie tragen nur Rachsucht im Gemüthe. Ich bringe Euch nicht hinüber. Ich will Euch nicht in den Tod führen. Bleibt hier, ich habe einen Platz für Euch, einen sichern Platz. Dort stärkt Ihr Euch ganz, dort wartet Ihr, bis die Menschen wieder ruhiger und friedfertiger geworden sind. Dann will ich Euch hinüber bringen, zu Eurer Heimath, Eurem Vaterlande.“

„Das Leben ist süß.“

Der Franzose nahm die Hand des Mädchens und drückte sie an sein Herz.

„Das willst Du, Mädchen? Du bist mein Engel, ich folge Dir.“

„Wartet hier fünf Minuten; dann bin ich zurück bei Euch und hole Euch ab.“

Sie kehrte zum Hause zurück. Das Fährhaus war kein großes, geräumiges Gebäude. Es hatte eine Stube, ein paar Kammern, eine Küche, einen Stall. Das Alles lag unmittelbar an einander, und was in dem einen Raume geschah, konnte in dem andern gehört werden. In keine konnte sie den Verwundeten bringen. Der Fährknecht Wilhelm, der trotz, vielleicht gerade wegen seines Blödsinns leicht zum Verräther werden konnte, war zwar nicht im Hause, sondern hielt sich in einer Fährhütte auf, die, näher der Fähre zu, dem Hause gegenüber lag. Dort schlief er auch, und er kam nur des Mittags zum Essen in das Haus. Aber ihr Vater hatte ein scharfes Gehör, und das Alter und die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_626.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)