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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Krankheit haben keinen Schlaf. Das Haus hatte indessen einen geräumigen Boden, auf den man vermittelst einer Leiter hinaufstieg. Die Leiter stand lose; sie konnte fortgenommen werden; sie lag gewöhnlich, Dritten nicht wahrnehmbar, im Stalle. Auf dem Boden war der Verwundete sicher. Es lag Heu dort oben. In das Heu trug das Mädchen das Bette, auf dem ihre Schwester gestorben war. Milch und Brod stellte sie in eine Ecke. Dann kehrte sie zu dem Ufer zurück.

„Folgt mir.“

Sie nahm die Hand des Franzosen und führte ihn in das Haus zu der Leiter, die Leiter hinauf, auf den Boden, zu dem weichen, wärmenden Bette.

„Dort. Schlaft ruhig. In der Ecke findet Ihr Milch und Brod. Morgen früh komme ich wieder. Gott sei mit Euch.“

„Mädchen, mein Engel,“ rief der Franzose, und er suchte ihre Hand und sie ließ ihn sie finden.

Sie ließ sie ihm. Seine Lippen drückten einen heißen Kuß darauf. Sie brannten schon. So schnell kehrt Leben und Feuer in den jugendlichen Körper, in’s jugendliche Herz zurück. Sie floh verwirrt von dem Boden. Sie vergaß beinahe, die Leiter hinter sich fortzunehmen, und in den Stall zurückzutragen. Seine Lippen brannten noch auf ihrer Hand. Es war später Abend geworden. In dem Hause herrschte vollkommene Ruhe. Der Fährknecht Wilhelm war von der Leiche zurückgekehrt und hatte sich sofort in seiner Hütte zur Ruhe begeben. In der Stube schliefen der Greis und das Kind, – das kranke Kind unruhig, der Greis ruhig nach der Aufregung durch die Ereignisse des Abends.

Das Mädchen setzte sich vor ihr Bette, sann und träumte wieder, und saß, bis die Schwarzwälder Uhr an der Wand Mitternacht schlug. Sie erschrak. Sie hatte das Ansagen der Todten vergessen. Von dem Schlage der Uhr erwachte der Greis.

„Hast Du die Todte angesagt?“ rief er heftig dem Mädchen zu.

Sie erschrak, noch mehr, und zitterte vor seinen Vorwürfen.

„Nein,“ sagte sie ehrlich. Auch nicht, um ihn zu beruhigen, wollte sie eine Unwahrheit sagen.

Die wirren Augen des Greises blitzten in wüthender Freude auf.

„Gott sei Dank, es muß noch eine Leiche aus dem Hause. Er ist hier; er muß sterben!“ Auf einmal heftete sein Blick sich durchbohrend auf das Mädchen. „Du hast ihn verborgen! Du willst ihn mir entreißen! Gib ihn heraus; ich fluche Dir, wenn Du ihn nicht herausgibst, Du stirbst mit ihm!“

Das Mädchen schauderte.




II.
Der Gang zu dem Liebhaber.

Acht Tage waren vergangen. Es war des Nachmittags. Der alte Fährmann Rose schlief. Der hinfällige Greis war seit dem Tode seiner Tochter nicht mehr aus dem Bette gekommen. In heftigeren Anfällen seines Irrsinnes, der ihn nicht wieder verlassen, hatte er hinausspringen wollen; seine Kräfte hatten nicht ausgereicht. Jene Anfälle hatten sich indeß nur in den ersten Tagen wiederholt. In der letzteren Zeit war er ruhiger geworden.

Die kleine Anna saß aufrecht auf der Bank, auf einem weichen Kissen, das die Muhme ihr hingelegt hatte. Sie spielte mit einer Puppe von Holz, die der blödsinnige Wilhelm ihr geschnitzt hatte. Sie war seit einigen Tagen wohler. Der blödsinnige Fährknecht war in seine Hütte gegangen. Dort pflegte er, wenn er nicht zu arbeiten hatte, und er hatte wenig zu arbeiten, auch bei Tage zu schlafen. Sein Schlaf war des Nachts, wenn er zum Uebersetzen heraus mußte, um desto leiser.

Felicitas Rose stand in der Stube nachdenklich am Fenster. Ihr Blick schweifte in die weite, unbestimmte Ferne, doch bald wandte sie ihn in die Stube zurück, auf den Vater, der in seinem Bette ruhig schlief. Nur selten wurde der Athem schneller, heftiger, als wenn er ein Zucken oder Leiden des kranken Gehirns anzeige. Auch auf das Kind blickte sie, das mit seiner Puppe still spielte; aber nur still in dem blassen Gesichte; die mageren Händchen mit ihren krankhaft aufgereizten Nerven flogen an dem Spielzeuge rasch und zuckend hin und her. Felicitas sah sinnend auf den Vater und das Kind.

„Anna,“ sagte sie zu dem Kinde, „ich muß Dich auf ein Viertelstündchen allein lassen.“

„Wohin gehst Du, Muhme?“

„Ich habe etwas Dringendes zu besorgen.“

Das Kind sah mit einem forschenden Blicke zu ihr auf.

„Ich weiß, wohin Du gehst, Muhme.“

Felicitas erröthete vor dem Blicke, vor den Worten. Aber sie that, als wenn sie Beides nicht wahrgenommen habe.

„Du bleibst doch recht still, bis ich wiederkomme, und weckst den Großvater nicht?“

„Du hast einen Liebhaber, Muhme Felicitas.“

Das Mädchen erblaßte.

„Zu dem gehst Du.“

„Um Gotteswillen, Kind, wer hat Dir solches Zeug in den Kopf gesetzt?“

„Ich weiß es. Der Wilhelm hat es mir gesagt.“

„Der Blödsinnige –!“

„Ihr nennt ihn den Blödsinnigen, den Unklugen; aber er ist nicht unklug; er hat mir schon Manches gesagt.“

„Und was hätte er Dir gesagt?“

„Daß meine Mutter hätte sterben müssen, weil ich ihr Kind sei, und daß ich auch sterben müsse, weil ich nicht so ihr echtes Kind sei. Es sei so was Fremdes an mir und alles Fremde müsse aus dem Lande heraus.“

„Aber, Anna, was für dumme Sachen sind das! Hast Du denn ein Wort davon verstanden?“

„So ganz wohl nicht; aber seine Augen sahen so klug, so eigen dabei aus.“

„Aber die Worte waren so unvernünftig.“

„Er hat mir auch noch mehr gesagt.“

„Und was war das?“

„Das war gar nicht unvernünftig; das habe ich ganz wohl verstanden.“

„Theile es mir mit.“

„Dein Liebhaber sei auch ein Fremder, und darum müssest Du auch sterben, das habe auch der Großvater gesagt; und dann sei er hier so ganz allein auf der Fähre. Er weinte dabei, der arme Mensch.“

„Er weinte?“

„Recht traurig. Er ist gut, der unkluge Wilhelm.“

Der Blödsinnige hatte immer nur ein gutes Herz gezeigt, freilich zugleich jenes stille Mißtrauen und jene eigensinnige, hartnäckige Heimlichkeit auch der gemüthlichsten Blödsinnigen, aber nie einen Zug eines bösen oder nur übelwollenden Herzens. Und wie leicht kann selbst ein verständiges, gutmüthiges Herz von fremder Bosheit oder Leidenschaft mißbraucht werden! Das Mädchen beruhigte sich nur halb über den Blödsinnigen. Und über das Kind? Wenn es gegen den wahnwitzigen Vater plauderte!

„Anna,“ sagte sie zu dem Kinde. „Du bist ein kluges, verständiges Mädchen. Du kannst schweigen.“

„Du weißt es, Muhme.“

„Komm mit mir; Du sollst sehen, wohin ich gehe.“

„Du gehst nicht zu Deinem Liebhaber?“

„Ich habe keinen Liebhaber. Aber zu einem kranken, elenden Mann gehe ich, der sterben müßte, wenn ich ihn nicht pflegte, und den die bösen Menschen todtschlagen, ermorden würden, wenn sie wüßten, daß er hier ist. Du wirst kein Wort von ihm sagen?“

„Kein Sterbenswörtchen, Muhme.“

„Auch zu dem Großvater und dem Wilhelm nicht?“

„Zu keinem Menschen, Muhme.“

Das Kind war noch keine vollen sechs Jahre alt; aber es war klug, wie ein Kind von zehn Jahren. Der Verstand kränklicher Kinder reift schnell. Sie nahm das abgemagerte, federleichte Kind auf den Arm und verließ mit ihm die Stube. Auf der Decke, wo sich die Luke befand, die auf den Boden führte, ließ sie es nieder. Nebenan war der Stall, in welchem die Leiter zu der Luke lag. Sie holte sie, setzte sie an, stieg hinan und hob die Luke in die Höhe, die niedergelassen war. Dann kam sie wieder herunter, das Kind zu holen. Mit ihm stieg sie wieder die Leiter hinauf und durch die geöffnete Luke auf den Boden.

„Sei ganz still, Aennchen. Er könnte schlafen und dem Kranken thut der Schlaf so wohl.“

Das Kind hielt fast den Athem an. Auch Felicitas. Sie schritt leise, das Kind auf dem Arme, nach der hinteren Seite des Bodens, wo das Heu lag. In dem Heu lag seitwärts das Bett. Es war ein weiches, warmes Bett. Die Mutter des Kindes hatte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_627.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)