Seite:Die Gartenlaube (1857) 630.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

die sich sanft nach den kleinen Karpathen zu erhebt, nimmt sich der Ort mit seiner hohen alten, in ziemlich reinem byzantischen Style gehaltenen Pfarrkirche, seiner stattlichen Synagoge, mit einigen gut gebauten und mehreren weißangestrichenen Häusern, so wie mit seinem großen Franciskanerkloster am nördlichen Ende freundlich und vielversprechend aus. Ihre Perle und die der ganzen Umgegend viele Meilen weit und breit ist aber das eine Viertelstunde südlich auf einer zweiten Stufe des Berges thronende umfangreiche wohlgehaltene weiße Schloß, das einen sehr großen Halbkreis, vorzüglich nach Süden und Westen hin beherrscht. Freistadtl hat gegen 6000 Einwohner, aber eine Ausdehnung, die in Deutschland wenigstens drei Mal mehr bedingen würde. So ist z. B. das Areal von Gotha merklich kleiner, als das von Freistadtl. Der Ort hat ein Stuhlrichter- und ein Steueramt, eine Erdödy’sche Präfectur mit einer nicht geringen Anzahl von Beamten, eine Dechanei, eine Postexpedition, eine Apotheke, drei Aerzte, starke Vieh- und Getreidemärkte, täglichen namhaften Marktverkehr, beträchtlichen Handel, vorzüglich Holzhandel; die allgemein gebräuchliche Sprache ist die deutsche – und man spricht sie besser, als ich erwartet hatte – nur ausnahmsweise wird ungarisch (magyarisch) und nur in den untern Schichten slowakisch gesprochen.

Nach all’ diesem sollte man meinen, es müsse unter dieser Menge kaiserlich-königlichen und gräflich-Erdödy’schen Beamten, Geistlichen, Kaufleuten etc. doch auch ein geistiger Verkehr bestehen. In der That, ich habe sehr viele Damen und Herren nach dem neuesten Pariser und Wiener Modejournal gekleidet gesehen, aber etwas, das wie eine Bibliothek ausgesehen hätte, Leih- oder Privatbibliothek, habe ich nirgend wahrgenommen und auch nichts davon gehört. Und doch gibt es eine große reiche prächtige Bibliothek in Freistadtl, von der ich nachher reden werde, die aber erst recht den Beweis der Geistesarmuth in dem Orte liefert. Ich war an diese Armuth bald so gewöhnt, daß ich eines Tages erstaunt war, Lenau’s Gedichte bei einer Kaufmannsfrau zu finden.

So besteht denn die Bevölkerung nur aus echten Leuten vom neuen und aus echten Leuten vom alten Testament, d. h. die größere Hälfte sind gute katholische Christen, die kleinere strenggläubige Juden. Jede Partei klammert sich mit Fanatismus an ihren Gott; die Ausnahmen sind zumeist bei den vornehmen Christen zu suchen. Die Einen machen Geschäfte und die andern lassen Geschäfte mit sich machen; die Einen schenken Wein, Branntwein und Bier, und die Andern trinken Wein, Branntwein und Bier. In der That, das fünfte Haus ist eine kleine schmutzige Schenke, in der ein Jude sitzt. Uebrigens haben die Juden fast allen Handel und alle Gewerbe in Händen. Auch der starke Holzhandel aus den nördlichen Comitaten hierher liegt als Monopol in den Händen einer jüdischen Familie, Gebrüder Seßler, die, rührig und intelligent, damit in kurzer Zeit viel gewonnen hat. In dieser liebenswürdigen Familie habe ich die schönsten Tage meines dortigen Aufenthaltes verlebt.

Wenn man auf den für den Deutschen befremdend breiten Straßen des Städtchens geht, begegnet man immer zehn Juden, ehe man einen Christen sieht, und doch wurde mir officiell gesagt, Freistadtl habe nur tausend israelitische Einwohner. Ich glaube, die Hälfte ist jüdisch, wie überhaupt die Anzahl der Juden in der Slowakei eine weit größere ist, als die officiellen Angaben besagen. Der Grund dieser Täuschung läßt sich errathen.

Der Weg von dem Markte nach dem Schlosse führt durch den Park und man kommt da zuerst zum anständigen Gärtnerhause, dann zu dem grandiosen Orangeriehause, einem wahrhaft fürstlichen Gebäude, mit einer Orangerie, wie man sie nur in den größeren deutschen Residenzen zu sehen gewöhnt ist. Man wird sich in diesen Gewächshäusern nie umsonst nach einer exotischen Pflanze von Bedeutung umsehen. Ueberraschung gewähren vier Orangenbäume von einer Größe, Dicke und einem Alter (es wurde auf dreihundert Jahre angegeben), wie man in andern Gewächshäusern schwerlich findet. Zur Erhöhung der Theilnahme an diesen stolzen Bäumen hatte sich eine hübsche romantische Geschichte an sie geheftet, eine kleine Novelle, welche die Unbeständigkeit der irdischen Güter drastisch vor Augen führt. Vielleicht theil’ ich sie in einem besonderen Aufsatze mit.

Der gräfliche Obergärtner war ein liebenswürdiger, gebildeter und, wie mir schien, in seinem Fache ausgezeichneter junger Mann, der mich, so oft ich kam, mit wahrer Freude empfing. Diese wurde mir erklärlich, als ich erfuhr, daß er mit seinen herrlichen Bäumen, Gewächsen, Pflanzen, Blumen wie ein verzauberter, gleichsam unnahbarer Prinz da oben auf seinem Berge sitze. Niemand besucht sein duftendes, blühendes, grünes Reich, keine Seele wird von Sehnsucht nach den stillen Blumengeistern aus allen Ländern der Erde hierher gezogen. Das Schloß steht fast das ganze Jahr verödet; Graf Franz Xaver Erdödy, der jetzige Besitzer, ein Herr von noch nicht dreißig Jahren, lebt mit seiner noch jüngeren Gattin meistens in Wien; Fremde kommen wenig hierher und werfen auch dann meist nur einen Blick aus der Ferne auf das stolze Gewächshaus und der Freistadtler beau monde scheint in Actenstaub, Handel und Wandel, Essen und Trinken den Sinn für Naturschönheiten verloren zu haben, wenn er überhaupt jemals einen solchen besessen hat. Nun wohnt doch jedem Künstler der natürliche Trieb inne, sein Kunstwerk den Verständigen vorzuführen, damit sie sich daran erfreuen und erheben, und darin seinen schönsten Lohn zu finden. Daher der wehmüthige Zug in dem geistreichen Gesichte des jungen Obergärtners und seine Freude, als ein Mensch kam, der Interesse an den herrlichen Kindern der ausländischen Flora zeigte und dem er ein Verständniß zutrauen durfte.

Hat man durch Bosquets und Bowlinggreens die Höhe der Bergstufe erreicht (der Fahrweg ist eine geradlinige Allee), auf welcher das Schloß mit seinen Nebengebäuden emporragt, und tritt man auf den dicht an die nordwestliche Ecke des Schlosses angebauten geräumigen und mit eiserner Brustwehr versehenen Altan, so fühlt man die Seele weit werden von der eigenthümlich reizenden Aussicht südlich in die weite Donauebene hinab, deren letzte Linien mit dem Horizonte zusammenfließen, westlich nach Preßburg, dessen Schloßruine man mit bewaffnetem, und nach Tyrnau, dessen zahlreiche Thürme man mit bloßem Auge erblickt; dann rollt sich von Westen bis Norden die ganze malerisch geformte Gebirgskette der kleinen Karpathen auf, und in der mehrere Meilen breiten nach den Bergen aufsteigenden Ebene stellen sich eine Menge Dörfer und Schlösser dar, viel stärker gekennzeichnet, als in Deutschland, durch die vorherrschende Liebhaberei der Slowaken zur weißen Farbe, womit sie sich und ihre Häuser bekleiden, so daß man ihre Dörfer aus großer Entfernung wie Perlen in grünem Meere schimmern sieht. Nördlich erheben die höheren Karpathen und nordöstlich einige Spitzen des Tatragebirges ihre stolzen kühnen Häupter in blauen Tinten. Es ist einer der schönsten und fruchtbarsten Landstriche des gesegneten Ungarreichs, welchen man von dieser Terrasse und aus den nach Westen sich öffnenden Fenstern des Schlosses übersieht. Wir zählten mit dem Fernrohre dreizehn Schlösser und Schloßruinen in den Karpathen drüben, von welchen die noch bewohnte gräflich Palffy’sche Stammfeste Biberspurg oder Rothenstein das bemerkenswertheste, besonders interessant, weil sie der schönen Ungarkönigin Maria, der Gemahlin jenes unreifen Ludwig II., der 1526 im Sumpf bei Mohacs auf der Flucht aus der Türkenschlacht erstickte, und der Lieblingsschwester Kaiser Karl V., der sie hernach zur Statthalterin der Niederlande erhob, zum romantisch einsamen Aufenthalte mit dem ihr nicht gleichgültigen, wohlgebildeten Markgrafen von Anspach-Culmbach diente, der am ungarischen Königshofe wie zu Hause eine gleich merkwürdige Rolle spielte.

Wir treten in das Schloß Freistadtl. Es bildet ein unregelmäßiges Viereck, welches einen kleinen Hof einschließt, und hat drei Stockwerke. Eine breite sehr bequeme steinerne Treppe führt uns in die obern Partien, durch helle reinliche, mit jenen weißen Kalksteinplatten, die man in dieser Gegend in allen vornehmen Häusern findet, belegte Corridore in die hohen geräumigen Zimmer. Es ist alles fürstlich und doch einfach. Ueberall tritt uns die Schöpfung eines edlen Geschmacks entgegen. Alles ist modern, nichts erinnert mehr an das Mittelalter. Der Styl der Decoration ist jene Nachahmung des hellenischen, wie sie zu Anfang unseres Jahrhunderts Mode war. Und doch ist das uralte königliche Schloß Galgocz, dessen Erbauungszeit man gar nicht kennt, nicht zerstört, sondern nur allmählich umgebaut worden. Die jeweiligen Besitzer haben das Ritterhaus stets den Geschmacksforderungen ihrer Zeit angepaßt. Wäre man mit allen Bauten des menschlichen Geistes so vernünftig verfahren, es hätte nie Revolutionen gegeben.

Die interessanteste Partie des Schlosses war für mich der große Bibliotheksaal, mit wohlthuender einfacher Pracht ausgestattet. Und welch ein Bücherreichthum! Der geschriebene Katalog

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_630.jpg&oldid=- (Version vom 15.11.2022)