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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Dein Liebchen hat einen andern Schatz, bei dem sitzt sie; wenn Du sie finden willst, dann gehe nach oben auf den Boden, da sitzen sie beisammen.“

„Bursch, Du bist ein Narr, laß mich.“

„Ja, ja, ich bin ein Narr, aber ich weiß, was ich weiß. Da oben sitzen sie beisammen. Und ein Franzose ist es. Und es ist eine Sünde und Schande, daß sie bei ihm sitzt. Und auch der Alte weiß es, und er will ihm den Kopf spalten, dem Franzosen, der ihm schon das eine Kind unter die Erde gebracht hat; er kann nur nicht aus dem Bette, der alte Mann. Du weißt, vor vierzehn Tagen haben wir sie begraben; gerade an dem Tage! Ja, ja, ich bin wohl ein Narr; aber der Narr ist ja so dumm nicht und er kann sehen, auch im Finstern. Und eine Schande ist es, und ich leide es nicht mehr. Höre, Ferdinand, Du thust mir den Gefallen und schlägst den Franzosenhund da oben todt. Der Alte kann nicht aus dem Bette und ich fürchte mich. Und Dich geht es mit an, sie ist ja Dein Schatz. Nicht wahr, Ferdinand, Du thust mir den Gefallen? Du hast starke Arme, und der Franzose ist krank und kann sich nicht wehren.“

So sprach der Blödsinnige, mehr und mehr in Eifer gerathend, und so immer rascher, lauter. Den jungen Bauer hielt er dabei mit beiden Händen fest.

„Geh nun zu Bette,“ sagte dieser ernst und streng zu ihm; „und unterstehe Dich nicht, zu einem Anderen solch’ unsinniges Zeug zu reden.“

Aber den Schwachsinnigen beherrschte der ganze zähe Eigensinn seines krankhaften Zustandes.

„Du willst nicht? Du fürchtest Dich auch? Ich weiß Leute, die sich nicht fürchten. Und alle Beide sollen sie sterben.“

Er ließ den Bauer los und rannte in demselben Augenblicke fort, dem Dorfe zu.

Der junge Bauer trat rasch in das Fährhaus und in die dunkle Stube. „Felicitas, bist Du hier?“

„Ja, Ferdinand.“

„Komm heraus, ich habe mit Dir zu sprechen.“

„Du kannst hier reden; der Vater schläft.“

„Felicitas, ich sprach eben den Wilhelm; der blödsinnige Mensch führt verwunderliche Reden.“

„Ich habe hier Alles gehört, was er mit Dir gesprochen hat.“

Der junge Mann schien zu erschrecken.

„Wie? Und was sagst Du dazu?“

„Ferdinand, Du bist ein braver Mensch. Du wirst Niemanden unglücklich machen.“

„Mit Wissen und Willen nicht.“

„Ich weiß es. Der Blödsinnige hat Dir die Wahrheit gesagt; ich verberge hier einen kranken, verwundeten Franzosen.“

„Und –? Und Du liebst ihn, Felicitas?“

„Und liebe ihn.“

Sie sprach es mit freiem, muthigem, fast stolzem Herzen; aber dennoch konnte sie es nur mit leiser, zitternder Stimme hervorbringen. Der junge Mann hörte nur die zitternde Stimme.

„Felicitas,“ sagte er ernst, aber nicht streng, sondern mild, traurig, „erinnerst Du Dich des Traumes, den Du mir erzähltest? Du solltest kein Glück mehr auf der Welt haben, sie trugen Dich mit Deinem Vater zusammen zum Kirchhofe!“

Das Mädchen erschrak bei der plötzlichen Erinnerung.

„Es war ein böser Traum.“

„Auch Deine Schwester hatte kein Glück mehr auf der Welt, und sie haben sie vor dem Vater zum Kirchhofe getragen!“

Da sah das Mädchen ihn klar und frei an, und sie sprach auch mit freier, muthiger, stolzer Stimme:

„Nun, Ferdinand, darauf kann ich Dir hell in die Augen sehen. Ich liebe ihn, daß ich nicht von ihm lassen kann; aber ich liebe ihn mit dem reinsten Herzen.“

„Gott sei Dank! Und nun laß uns ruhig sprechen, was Du zu beginnen hast. Wo ist der Fremde?“

„Oben auf dem Boden.“

„Er muß fort.“

„Er muß? – Ja er muß! Er muß!“

Wie mochte das Mädchen erblassen, als ihr plötzlich der Gedanke klar wurde, daß er fort müsse, der Mann, den sie so liebte, daß sie nicht von ihm lassen konnte!

„Ist er noch schwer krank?“ fragte der junge Mann.

„Er ist beinahe genesen.“

„Kann er noch heute Abend von hier fort?“

„Er kann,“ sagte fast lautlos das Mädchen.

„So bringe ihn sogleich fort. Der blödsinnige Mensch ist zum Dorfe gerannt; er wird dort Alles aufbringen. Noch immer ist das Volk wüthend in seinem Hasse gegen die Franzosen.“

Das Mädchen weinte.

„Er muß fort, Felicitas, fasse Dir ein Herz. Fehlt Euch noch etwas zu seinem Fortgehen? Sage es mir, ich gebe Dir es.“

Felicitas konnte sich nicht mehr halten; sie fiel dem edlen Bauer an das Herz.

„Ferdinand, Ferdinand, wie bist Du so brav!“

„Eile, mein gutes Mädchen. Bedürft Ihr noch etwas?“

„Nichts.“

„So beeile Dich. Ich gehe zum Dorfe, um die Leute aufzuhalten, wenn sie kommen. – Noch eins, Felicitas. Ich komme wieder hierher, nicht so oft wie bis jetzt, aber so oft ich denke, daß Du meine Hülfe nöthig hast. Ich bleibe Dein treuer Freund.“

(Schluß folgt.)




Die Hauptstadt eines asiatischen Weltreiches.
Aus der Reisemappe eines Künstlers.

Zu einer der angenehmsten Erinnerungen meiner vielen Reisen gehört der langjährige Aufenthalt in Astrachan. Schon der erste Anblick dieser wichtigen Stadt auf der Grenzscheide zwischen Europa und Asien machte auf mich, als sich unser Dampfer auf den Wellen der mächtigen Wolga dem Orte zuschaukelte, einen großartigen Eindruck. Ich habe seit jener Zeit nur eine Stadt wieder gesehen, welche in Lage und Eindruck der asiatischen Hauptstadt annähernd gleicht – es ist Pesth, wenn man bei Sonnenuntergang auf einem Wiener Dampfer der Hauptstadt Ungarns zueilt, aber dieser Eindruck ist verhältnißmäßig doch immer ein kleiner, weil der Donaustadt die großen mächtigen Gebäude fehlen, die Astrachan zieren.

Astrachan, oder das „Drachenhaus“ – dies bedeutet der tatarische Name – liegt auf einer Insel der Wolga, wo die Tataren, um sich gegen die Angriffe der Russen zu schützen, eine Festung erbaut hatten. Diese, jetzt Kreml genannt, nimmt den höchsten Punkt der Insel ein, und bietet durch die Kathedrale mit ihren fünf prächtigen, himmelanstrebenden Kuppeln, nebst den übrigen Kirchen, namentlich aber dem Palast des Erzbischofs, einen imposanten Anblick. Sie ist von einer einzigen Ringmauer aus Backsteinen umgeben, und dient hauptsächlich als Waffendepot für die Armee im Kaukasus und die Flotte des caspischen Meeres. Obwohl kein Sebastopol oder Kronstadt, ist doch Astrachan vermöge seiner Lage strategisch wichtig. Von friedlichen Volksstämmen umgeben, die sich glücklich schätzen, unter dem Scepter des mächtigen Zaren zu wohnen, ist es vor jedem Angriffe zu Lande wie von der Seeseite her sicher, denn auf dem caspischen Meere führt Rußland allein die Herrschaft, die ihm hier keine andere Macht streitig machen kann. Als größte Flottenstation und durch seine Schiffswerften ist Astrachan jetzt schon eine der wichtigsten Städte in diesen Gegenden des Reiches. Als Beherrscherin des caspischen Meeres wird es ohne Zweifel in den Kämpfen, die sich früher oder später einmal um den Besitz Persiens und die Herrschaft über Asien entspinnen müssen, eine bedeutende Rolle spielen, und eignet sich mehr als irgend eine andere Stadt zur Hauptstadt eines asiatischen Weltreiches.

In weiter Ferne schon konnte ich den Mastenwald der zahlreichen Schiffe erblicken, welche die Wolga und das caspische Meer befahren, unter denen sich die letzteren besonders durch ihre auffallende Höhe auszeichnen; alle sind reich mit Schnitzwerk verziert. Ungeheure Vorrähe von Waaren, die aus Persien kommen und durch Dampfschiffe auf der Wolga in das Innere Rußlands

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 640. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_640.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)