Seite:Die Gartenlaube (1857) 657.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Miß Julia Pastrana.


sie ihr Auge nach dessen Seite, zu den schwarzen, mit vertrockneten Blumen behängten Kreuzen auf den Gräbern ihrer Mutter, ihrer Schwester, der kleinen Anna, ihres Vaters. Man sah sie lange dahin blicken, lange und still; daß sie die Augen trocknen mußte, sah man nicht. Sie ließ den Kahn weiter gleiten, bis dahin, wo am andern Ufer die Bergstraße vom Wasser abbog und sich in das Land hineinzog. Dort legte sie an.

Sie befestigte den Nachen an dem Stamme einer Weide. Dann stieg sie an’s Land, und ging wenige Schritte vorwärts auf die Landstraße. Sie schien etwas an der Erde zu suchen. Sie blieb stehen, und sah still sinnend zur Erde nieder, dicht vor sich.

Hatte sie dort den letzten Abschied von ihm genommen? Hatte sie dort zum letzten Male seine Hand, seine Lippen, das Schlagen seines Herzens gefühlt?

Sie ging weiter, in den Weg hinein. Nach einer Weile stand sie wieder. Dort mußte er zum letzten Male Felicitas gerufen haben.

„Felicitas! Glück, Segen!“ hatte er so oft scherzend zu ihr gesagt.

Sie ging noch weiter in den Weg hinein. Er führte eine Anhöhe hinauf. Dort oben sah man ein unabsehbares Thal jenseits. Sie erstieg die Höhe, und sah in das unabsehbare Thal hinab. Dort ganz hinten am Horizonte mußte der Rhein fließen. Und über ihm und weit, weit über ihn und den Horizont hinaus waren die Ufer der Garonne und das Gestade des atlantischen Meeres. Und dort ging die Sonne unter. Eben verschwanden ihre letzten Strahlen.

Sie kehrte zurück; zurück zum Ufer, wo der Nachen lag. Aber sie kam nicht bis zu dem Nachen.

An der Stelle, wo sie vorhin still sinnend zur Erde niedergeblickt hatte, sah man sie den langsamen Schritt anhalten. An derselben Stelle. Sie senkte wieder das Auge. So stand sie lange unbeweglich, bis man sie leise niedersinken sah. Sie stand nicht wieder auf.

Leute, die unterhalb des Dorfes arbeiten, hatten sie so gesehen. Sie gaben Nachricht zur Fähre hinauf.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 657. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_657.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2017)