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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Ernennung einer Commission, die sich mit der Prüfung der von mehreren benachbarten Sprengeln eingereichten Beschwerden beschäftigen sollte. Die damaligen Streitigkeiten zwischen dem Parlament und dem Erzbischof ließen jedoch diese wichtige Angelegenheit bald vergessen und obgleich man in den folgenden Jahrhunderten noch mehrere Male darauf zurückkam, so ließ man doch die wiederholten Klagen jener Sprengel unberücksichtigt und setzte die Stadt einer Menge Seuchen aus. Als man aber im Jahre 1770 auf jenem Kirchhofe eine zweitausend Leichen umfassende Gemeingruft aushöhlte und in mehreren Kellern der benachbarten Häuser Unglücksfälle aller Art entstanden, wurden die Beschwerden so allgemein und so dringend, daß man sich endlich zu einem entscheidenden Schritte entschließen mußte. Es wurde in einer dem Polizeilieutenant eingereichten Beschwerdeschrift nachgewiesen, daß die im genannten Kirchhofe seit undenklichen Zeiten aufgehäuften Leichen den Boden um sechs Fuß über das Niveau der benachbarten Straßen erhöht hatten. Am 9. November 1785 erließ endlich der Staatsrath den Beschluß, daß der erwähnte Gottesacker nach vorhergegangenen, von der Kirche vorgeschriebenen Gebräuchen in einen öffentlichen Marktplatz umgewandelt würde.

Die vorzunehmende Arbeit war ungeheuer. Der zu säubernde Kirchhof, der schon zu Philipp August’s Zeiten bedeutend vergrößert werden mußte, hatte sechs Jahrhunderte hindurch einundzwanzig Sprengeln die Begräbnißstätten geliefert, so daß der letzte dort angestellte Todtengräber in einem Zeitraum von weniger als dreißig Jahren über neunzigtausend Leichen bestattet hatte, und es ist berechnet worden, daß seit langer Zeit die Durchschnittszahl der dort Beerdigten jährlich über dreitausend betrug. Unmittelbar nach dem eben erwähnten Beschluß des Staatsraths wurde ein geeigneter Platz in den südlich von Paris gelegenen Steinbrüchen zur Aufnahme der aus dem Cimetière des Innocents fortzuschaffenden Gebeine aufgesucht, und nachdem die jetzigen Katakomben als der geeigneteste befunden worden, ging man an die Ausgrabungen. Sie fanden Abends bei Fackelbeleuchtung statt. Es herrschte bei dieser Arbeit eine Todtenstille, die nur von Zeit zu Zeit durch das dumpfe Geräusch der Spaten, durch das Klappern der Gebeine, oder durch das Murmeln von Gebeten unterbrochen wurde. Die Arbeiter waren in Gruppen abgetheilt. Die Einen holten die Gebeine aus den Gräbern; die Anderen legten sie auf die bereitstehenden, mit einem Leichentuch bedeckten Wagen, die langsam und feierlich und von einem Priester im Chorhemde begleitet, den Weg nach den Katakomben einschlugen. Wiederum Andere trugen die gefundenen, noch wohlerhaltenen Särge und Katafalke behutsam und vorsichtig aus dem Kirchhofe, während die Uebrigen entweder die Kreuze aus der Erde nahmen, oder die erhaltungswürdigen Monumente sorgfältig auseinander legten. Die Umfriedung des Kirchhofes war mit einem Kranze von Pechpfannen umgeben, und die vom Winde bewegten Flammen und die nach allen Richtungen sich zerstreuenden Rauchwolken gaben der Scene etwas Unheimliches, das manchen Bewohner dieses Stadttheiles mit stillem Grauen erfüllte.

Diese Arbeiten, welche nur in den Sommermonaten unterbrochen wurden, begannen im December 1785 und waren bereits im Januar 1788 beendigt. Im Ganzen hatten sie fünfzehn Monate gedauert. Sie waren in der That riesenhaft, um so riesenhafter, als man Alles, was nur einigermaßen dem Interesse der Kunst, der Naturwissenschaft und der Alterthumsforschung dienen konnte, sorgfältig ausschied und bewahrte. Auch nicht das allerkleinste Monument wurde verletzt; auch nicht die allerunbedeutendste Aufschrift wurde zerstört und jeder merkwürdige Schädel oder sonstige Knochen von auffallender Bildung sogleich der osteologischen Sammlung einverleibt.

Inzwischen hatte die feierliche Einweihung der Katakomben stattgefunden. Man dachte damals nicht daran, daß man am Vorabend einer furchtbaren Umwälzung stehe, und daß die Katakomben bald die Opfer des blutigsten Bürgerkrieges aufnehmen würden. Zuerst wurden die Leichen der am 10. August 1792 im Kampfe in den Tuilerien Gefallenen in die Katakomben gebracht. Dann folgten die Opfer der Septembertage. Unter ihnen befanden sich der Erzbischof von Arles, die Bischöfe von Beauvais und von Saintes, die Prinzessin von Lamballe und eine Menge alter Officiere der königlichen Garde und Magistratspersonen. Man starb damals, ohne erst krank zu sein. Der Tod mähete die Menschen zu Hunderten, und sie wurden in Bausch und Bogen zu Hunderten begraben. Auf der Stelle, wo jene Gefallenen ruhen, befinden sich Monumente mit entsprechenden Inschriften.

In Folge der französischen Revolution wurden nach und nach sämmtliche Kirchhöfe aus der Stadt entfernt, und die ausgegrabenen Ueberreste in die Katakomben gebracht, so daß diese jetzt die Gebeine unzähliger Geschlechter enthalten.

Die Romanschriftsteller haben die Katakomben häufig zum Schauplatz der schauerigsten Begebenheiten gewählt; und in der That mögen in diesen unterirdischen Gängen und Schlupfwinkeln gar manche Gräuelthaten begangen worden sein. Es ist dies um so wahrscheinlicher, als man früher diese Brüche nur zum Theil kannte und der Eintritt zu denselben Jedem frei stand. Jetzt wird die Erlaubniß, sie zu besuchen, von dem Minister der öffentlichen Bauten nur sehr sparsam und nur zu gewissen Perioden des Jahres ertheilt. Das Verbrechen muß andere Schlupfwinkel aufsuchen, wenn es sich vor dem Auge der Justiz verbergen will. Daß früher mancher Unglückliche, der in dieses unterirdische Labyrinth gerathen, sich dort verirrt und vergebens einen Ausgang gesucht, ist ebenfalls gewiß. Jetzt laufen diejenigen, welche in den Katakomben beschäftigt sind, keine Gefahr mehr, sich in den vielen Windungen zu verlieren. Die Gänge in denselben tragen nämlich die Namen der über ihnen hinlaufenden Straßen von Paris. So heißt z. B. der lange Gang, der unter der Rue d’Enfer sich in den Katakomben hinzieht, ebenfalls Rue d’Enfer und ist in Nummern abgetheilt, die mit den Hausnummern der genannten Straße correspondiren. Die Pariser, welche die Rue Tournon, oder die Rue de l’Odéon durchwandern, oder auf der nach Orleans führenden Heerstraße in offener Kalesche hinrollen, denken selten oder niemals daran, daß unter ihnen sich Straßen gleichen Namens befinden, daß zwischen ihnen und dem Abgrund nur eine ein Dutzend Meter dicke Erdrinde sich hinzieht. Wenn nun in einer über den Katakomben sich befindenden Straße ein Haus einstürzte, so würde man in den Katakomben sogleich die Stelle finden, die den Einsturz verursacht. Dieser Fall wird indessen nicht leicht mehr eintreten, da die Bauten in den Gängen sehr solid sind und auf’s Sorgfältigste überwacht werden.

Nachdem wir die Katakomben in allen Richtungen durchwandert hatten, traten wir den Rückweg an. Ich erinnerte mich, einmal gelesen zu haben, daß Jedem, der die Katakomben von Paris besucht, beim Herausgehen aus denselben ein großes Buch mit der Einladung überreicht würde, die Gedanken, Betrachtungen und Empfindungen einzuschreiben, die dieser Besuch bei ihm angeregt. Die Einladung erfolgte indessen glücklicher Weise nicht, und wir hatten nicht nöthig, aus der Sparbüchse unseres Geistes den Zinsgroschen zu holen. Kaum waren wir an dem Ausgang angelangt, als wir zu unserem Schrecken zwei Mitglieder der Gesellschaft vermißten. Rasch eilte der Inspector mit einem Aufseher wieder hinunter, und kehrte nach einer Viertelstunde mit den Verirrten zurück, die da unten keinen geringen Schreck ausgestanden.

Ueber eine Stunde hatten wir in den Katakomben zugebracht und schätzten uns glücklich, das schöne, rosige Sonnenlicht wieder begrüßen zu können. –




Unterseeischer Tunnel zwischen England und Frankreich.

Die Herstellung eines Verbindungsweges zwischen England und Frankreich, mit welcher man sich schon seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts beschäftigt, ist neuerdings, wo die Eisenbahnen in den Ländern gewaltige Bewegungen im Verkehre hervorgerufen, wieder ein Gegenstand des Nachdenkens geworden.

Die Schöpfung eines solchen Weges ist kein isolirter Gedanke: sie ist das ergänzende Bruchstück eines großen zwischen den Völkern circulirenden Stromes, der sich wie eine Ader über Europa verbreitet und in’s mittelländische Meer strömt, um seine Richtung nach dem Orient zu nehmen und Englands Besitzungen in Indien zu begrenzen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 671. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_671.jpg&oldid=- (Version vom 6.12.2022)