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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Kinde wurde von einem Steine in einem Hause mitten in der Stadt der Kopf weggerissen; in der Stephanspfarrschule kamen die Kinder mit dem Leben davon, der Lehrerin aber wurden beide Beine zerschmettert, und ist sie nach einigen Tagen auch gestorben. – Doch wenden wir uns ab von diesen blutigen Scenen, um ein Gesammtbild der angerichteten Zerstörung zu gewinnen!

Wir haben schon gesagt, daß die ganze Häuserreihe des alten Kästrichs niedergeschmettert wurde; ebenso die Häuser im obern Theile der Gaustraße; dort, wie in der Stephansstraße und der Weisgasse wurden alle Dächer zertrümmert. In der ganzen Stadt zersprangen in Folge des Luftdrucks fast alle Fensterscheiben; selbst Fensterrahmen und Thüren wurden größtentheils zersplittert. Auch die schönen gemalten Fenster des Doms und der Quintinskirche wurden zertrümmert; an der Emmeranskirche brachen nicht weniger als 4000 Scheiben entzwei, und am Frankfurter Hof, der den Sitzungssaal des großen Carneval-Vereins enthält, aber keineswegs das größte Gebäude der Stadt ist, desgleichen 544 Scheiben.

Das in die Luft geflogene Pulvermagazin enthielt eine Masse von 200 Centnern Pulver und 700 Stück Granaten, außerdem eine große Masse Zündhütchen und 600 Leuchtkugeln, woraus man auf die Gewalt der Explosion schließen kann.

Die Umgebung der Stadt war denn auch mit Steinen wie besäet. Aber auch über die Stadt selbst ergoß sich ein wahrer Regen von Steinen und Kugeln. Das stärkste Bombardement hatte die Stephanskirche auszuhalten, die nun wie eine Ruine dasteht. Das Dach ist fast vernichtet, die Fenster sind total zertrümmert, die Orgel ebenfalls; auch der Thurm litt sehr. Doch ist der Schade, den die Kirche genommen, nicht so groß, als man Anfangs glaubte; die Wiederherstellung wird jedoch mindestens 20–30,000 Gulden erfordern. Die Zahl der ganz zerstörten Häuser wird auf 57, die der Häuser mit zerschmetterten Dächern auf 64 angegeben.

Die weggeschleuderten Steine fielen in Entfernungen von einer Viertel-, ja bis zu einer halben Stunde nieder, und zwar in dieser Entfernung noch mit unglaublicher Wucht.

Ein solcher Stein, im Gewichte von drei Centnern, brach durch das Dach und zwei Stockwerke des schönen Café de Paris, bis in’s Erdgeschoß desselben, ohne in den sonst so viel besuchten Localen desselben Jemand zu verletzen. Auch in andere Häuser brachen solche Steine ein; der colossalste aber, der deswegen auch verwogen und 1362 Pfund schwer befunden wurde, suchte ein Haus auf dem Ballplatze heim, wo er ebenfalls durch das Dach und zwei Stockwerke in das Zimmer eines preußischen Oberstlieutenants drang, und ebensowenig irgend Jemand beschädigte. Andere Steine beschädigten die Dächer des Gymnasiums und der evangelischen Kirche, sowie viele Privathäuser.

Von der Gewalt des Luftdrucks, den die Explosion hervorbrachte, mag man sich einen Begriff machen, wenn wir anführen, daß Wände einstürzten (z. B. in einem Schullocale und einem Saale des Theatergebäudes), Thüren aus Schloß und Riegel sich losrissen und die Schlußsteine der Brunnen in die Höhe fuhren. Im Hofe des Theaters, der durch das 120 Fuß hohe Gebäude von allen Seiten eingeschlossen ist, sprangen sogar die Thüren eines Weinkellers auf, eiserne Stangen wurden mit den Quadersteinen, in welchen sie befestigt waren, aus den Mauern herausgerissen. Nicht blos in Mainz selbst zersprangen die Fensterscheiben, auch in allen umliegenden Orten; in dem zwei Stunden entfernen Niederolm fielen Kaffeetassen von den Tischen. Die Lufterschütterung und das Donnergetöse hat man weithin vernommen, z. B. in Wiesbaden und Bingen, selbst jenseit des Taunusgebirges; ja, was fast unglaublich erscheint, aus Entfernungen von 30, 40 und 50 Stunden hat man eine Menge Berichte erhalten, die davon Meldung machen, daß man genau zur Zeit der Explosion eine Luft- und Erderschütterung und ein Getöse, wie das Rollen eines fernen Donners wahrgenommen habe.

Solche Meldungen liegen z. B. aus Alsfeld in Oberhessen, aus Fulda in Kurhessen, aus Arolsen im Fürstenthum Waldeck, aus Würzburg und Kissingen im Königreich Baiern, sowie aus Mergentheim und mehreren andern Orten des Königreichs Würtemberg vor; sie sind zum Theil in einer Zeit geschrieben, wo man an den betreffenden Orten von der Mainzer Katastrophe noch nichts wissen konnte.

Der an den Gebäulichkeiten der Stadt angerichtete Schaden beläuft sich auf mindestens eine Million Gulden; an den Festungswerken hat die Explosion einen Schaden von beiläufig 150,000 Gulden hervorgebracht. So sind z. B. an den Militairgebäuden allein 25,000 Fensterscheiben zerbrochen. Der Gemeinderath von Mainz beschloß, den Antrag auf Schadloshaltung beim deutschen Bunde zu stellen; dieser Antrag, dem sich die öffentliche Meinung mit seltener Einstimmigkeit anschloß, wird von der großherzoglich hessischen Regierung unterstützt werden. Dann aber ist auch die Wohlthätigkeit der ganzen deutschen Nation mit Recht in Anspruch genommen worden und ist es für die schwer heimgesuchten Bewohner von Mainz ein wahrer Trost, aus allen Gauen des deutschen Vaterlandes Beweise des allgemeinen Wetteifers zu erhalten, den Verunglückten Hülfe zu bringen.

Bis jetzt sind bürgerlicherseits allein dreißig Opfer der Katastrophe gestorben; meistens an den empfangenen Wunden, einige aber auch, und darunter zwei junge, blühende Mädchen von achtzehn und zwanzig Jahren, in Folge des Schreckens. Verwundet wurden wohl mehrere Hundert, davon zwanzig bis dreißig schwer; die andern (und besonders viele Frauen) kamen mit Kopf- und Handwunden davon. Viele aber werden für ihr ganzes Leben entstellt werden und ihren Familien als Krüppel übrig bleiben.

Gewiß, da thut es Noth, daß die Mildthätigkeit in allen Theilen Deutschlands wetteifert, zu helfen.

Und doch, so groß die Verwüstung, so bitter die Noth ist, muß man dennoch staunen, daß die Zerstörung nicht noch ärger, der Verlust an Menschenleben nicht noch größer ist. Ueber vierzig Todte hat zwar die kühle Erde in ihren Schooß aufgenommen; wer aber die Unzahl von Steinen, die umher geschleudert worden ist, die Masse von Geschossen, die nicht explodirt sind oder nicht getroffen haben und all die glücklichen Zufälle, denen so viele ihre Lebensrettung verdanken, zusammennimmt, der muß allerdings an das Walten einer höheren Hand glauben. Zur Zeit der Explosion waren die meisten Bewohner des alten Kästrichs – sie sind durchgängig Arbeiter – nicht zu Hause; die Wirthshäuser waren unbesucht und die Promenaden des schlechten Wetters wegen ohne Frequenz. Viele Bewohner der Gaustraße, z. B. mehrere Officiere, deren Wohnungen ganz und gar demolirt wurden, waren ebenfalls nicht zu Hause und blieben verschont, während mehrere Soldaten in der ersten Bestürzung aus den Fenstern der ersten Etage eines Brauhauses in der oberen Gaugasse wenigstens dreißig Fuß tief in den Garten sprangen und sich durchaus nicht verletzten.

Gleich wunderbar entging der Generalstab der Bundesfestung und das österreichische Officiercorps dem Tode. Es war nämlich für dasselbe auf den Nachmittag des 18. November ein Turnfest im Graben neben dem explodirten Magazine angesagt, aber der ungünstigen Witterung wegen Mittags abgesagt worden. Welch ein entsetzliches Unglück hätte dieselben treffen können, wäre das Turnfest wirklich abgehalten worden!

Ja, es ist nicht unwahrscheinlich, wenn auch sehr zweifelhaft, daß dieses beabsichtigte Turnfest gerade der Anlaß zu diesem unheilvollen Ereignisse geworden ist. Von Seiten des Festungs-Gouvernements wurde eine Untersuchungs-Commission niedergesetzt, um wo möglich die Ursache der Explosion zu ermitteln. Die Nachforschungen derselben haben festgestellt, daß man kurz vor der Katastrophe einen österreichischen Soldaten in dem Magazine bemerkt hat; daß der Artillerie-Corporal Wimmer um die Mittagszeit des 18. November sich im Hause des Artillerie-Directors des Schlüssels zu dem aufgeflogenen Magazine bemächtigt hat und seitdem verschwunden ist. Bis jetzt ist noch keine Spur von demselben aufgefunden. Die zur Ermittelung der Veranlassung der Pulverexplosion niedergesetzte Commission, sagt man, habe indeß thatsächlich festgestellt, daß Wimmer das Magazin wirklich in Brand gesteckt habe, indeß ist diese Nachricht nicht authentisch.

L.


Kommen wir nun, sagt eine in Mainz erschienene Schrift, auf die Hauptsumme des furchtbaren Unglückes der Stadt Mainz zurück, wir müssen es aufrichtig gestehen, so wird es uns schwer, eine Zahl zu finden, die den daraus entstandenen Schaden zu decken vermag! Wenn auch von unseren Rechtsgelehrten „Worte der Beruhigung“, betreffs der Entschädigung, an uns gerichtetet wurden, und uns aus allen deutschen Gauen Trost, Unterstützungen zur augenblicklichen Linderung der Noth zufließen; wenn auch so viele edle Herzen durch Rechtsgefühl sich bereits für uns erschlossen haben, und mit der wahrhaftesten Menschenliebe Opfer der Mildthätigkeit bringen; wenn, wo

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 720. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_720.jpg&oldid=- (Version vom 27.12.2022)