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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Einige Stunden in der k. k. Irrenanstalt in Wien.
Von Dr. A.

Die k. k. Irrenanstalt in Wien.

Irrsinnige haben, wenn für den Menschenfreund etwas Trauriges, für den Arzt und Menschenkenner stets auch etwas Interessantes, denn erforscht er an den Gesunden die Lichtseite, so bieten ihm die Geisteskranken die Gelegenheit dar, die Schatten- oder wohl gar die Nachtseite des menschlichen Denkens, Wollens und Fühlens zu erspähen. Durch sie lernt er einsehen, wie sie ihre Gefühle oft seltsam verkörpern und personificiren, die Romane ihres Gehirns darstellen, Vorstellungen buntscheckig und ohne irgend ein Gesetz der Association aneinander reihen und überhaupt ein Seelenleben zeigen, das sonst weder erdacht, noch irgendwo anders gefunden werden kann. Darum sind die Psychiatriker (Seelenärzte) mit den meisten Novellen und Theaterstücken, in denen Irrsinnige Rollen spielen, unzufrieden, weil die auch noch so reich begabte Phantasie des Dichters die Wirklichkeit und Wahrheit eines wahnsinnigen Lebens nicht zu treffen im Stande ist. Der einzige Shakespeare macht hier eine Ausnahme, und seine Ophelia in Hamlet ist das Größte, was hier in diesem Fache existirt. Ein berühmter Psychiatriker, der zugleich mit mir die Aufführung im k. k. Hofburgtheater in Wien sah, machte denn auch die Bemerkung: Shakespeare hat seine Ophelia nach der Natur, d. i. an einer Irrsinnigen studirt, sonst hätte er diesen Charakter, obgleich ein so großes Genie, doch nicht so wahr und natürlich zeichnen können. Auf die Einwendung, daß ein Genie ja gerade das Eigenthümliche habe, sich ganz und gar in die Situation zu versetzen, entgegnete er:

„Nun und nimmer mehr, eben weil es ein gesundes und kein krankes Genie ist.“

Eben dieser große Psychiatriker wies die Schauspielerin, welche, anerkannt von allen Recensionen, die Rolle der Ophelia gegenwärtig am besten spielt, und die sich an ihn wendete, um sie ihr noch verbessern zu helfen, von sich und sagte ihr:

„Die Recensenten und Psychiatriker sind mit Ihnen zufrieden und so wird es das Publicum auch sein.“

Auf meiner Reise durch Wien suchte ich die k. k. Irrenheil- und Pflegeanstalt auf und fand bei dem Medicinalrath und Director derselben, Dr. Riedl, freundliche Aufnahme. Es ist ein zweistöckiges großes Gebäude, auf dem sogenannten Brunlfelde nächst der Hernalserlinie noch innerhalb der Stadtmauer gelegen, mitten in einem großen Parke auf einer Area von 60,000 Quadratklaftern und sieht mehr einem Lustschlosse, als einer Irrenanstalt gleich. Die Aussicht, die man auf dieser Anhöhe genießt, ist wirklich reizend; südwestlich die schönen Gebirge von Klosterneuburg, Grinzing, Dornbach; nordöstlich das ungeheuere Häusermeer der Residenzstadt, von der man einen großen Theil der Vorstädte überschaut. Sie liegt auf einem der schönsten Punkte, die Wien hat.

Nach Besichtigung der Anstaltscapelle, die mit kaiserlicher Pracht ausgestattet ist, nahmen wir das Innere der Anstalt in Augenschein. Die Gänge sind weit und groß, die Zimmer und Säle hoch und luftig. Zu ebener Erde sind die Handwerksstätten und Conversationssäle, im ersten Stock die Schlafstätten, in einem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_037.jpg&oldid=- (Version vom 8.1.2018)