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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

das Licht einfiel, konnte durch eine Maschinerie in wenig Secunden geschlossen werden, und nach Verschluß der Eingangsthüre in diese Zelle kann auch nicht ein Lichtstrahl eindringen, so daß die größte Finsterniß herrscht, eine stockfinstere, künstliche Nacht zur Mitigation exaltirter Patienten. Ich gestehe offen, daß mir selbst bange wurde, da ich mich in dieser Finsterniß befand.

Die Frauenseite, streng von der der Männer getrennt, ist von dieser nur insofern verschieden, als statt der Handwerkstätten Locale für Näherinnen, Strickerinnen, Strohhutflechterinnen und zum Waschen eingerichtet sind. Auch hier herrschte große Ordnung, und ein nach der Tagesordnung von 6 Uhr früh bis 7 Uhr Abends geschäftiges Leben. Die Irren speisen gemeinschaftlich in großen Sälen und, was mir höchlich auffiel, mit Messer und Gabel, ohne daß je ein Unfall vorkam; in den Corridors ist dies aber nicht der Fall, und von Schneideinstrumenten kann da keine Rede sein.

Ich verließ diese Anstalt mit dem freudigen Bewußtsein, daß Oesterreich im Irrenfache seit einem Decennium große Fortschritte gemacht und endlich einmal eingesehen hat, daß es hierin dem Auslande nicht nachstehen darf, was leider vorher nicht der Fall war; denn wer, der Wien besuchte, erinnert sich nicht des zum Sprüchwort gewordenen runden Thurmes, welcher die einzige Heil- und Pflegeanstalt für die Irren durch so viele Jahre war?




Ein unaufgelöstes Räthsel.
(Fortsetzung.)

Gefrühstückt wurde an diesem Tage nichts. Es war noch Nacht und im Dunkel gingen Bertha und Caroline eine weite Strecke durch den Wald. Der Tag war seit geraumer Zeit angebrochen, als sie vor einem einzelnen Hause ankamen, vor dem mehrere herrschaftliche Wagen (Chaisen) ohne Pferde standen. Bertha führte Carolinen in ein Zimmer dieses Hauses, wo sie kurze Zeit verweilten, ohne etwas zu genießen. Inzwischen hatte einer der Wagen zwei Pferde erhalten und nahm die Beiden auf. Er war auf beiden Seiten mit Thüren versehen, in denen Glasfenster waren. Die Reise dauerte 13 Tage und 12 Nächte. Beobachtungen stellte Caroline während dieser Zeit nicht an, da nur der eine Gedanke sie erfüllte, recht bald zu ihrer Mutter zu kommen. Man hielt immer vor einem Hause an, zuweilen unter einem Dache (Vorbau, Schuppen?). Das eine Haus kann oft zu einem Dorfe oder einer Stadt gehört haben, ohne daß Caroline, ganz von ihren Gedanken in Anspruch genommen, etwas davon merkte. Wenn man auf längere Zeit anhielt, brachte Bertha Speisen und Wasser und Caroline aß und trank in der Kutsche. Einige Male blieb die Wärterin Stunden lang weg und Caroline konnte dann vor Furcht nicht schlafen. In ein Bett kam sie während dieser ganzen Zeit nicht und verlangte auch nicht danach.

Nach dem angegebenen Zeitraume hielt die Kutsche einmal, als die Nacht nicht mehr fern war, auf einem Wege dicht an einem Walde. Bertha stieg mit Carolinen aus und die Kutsche fuhr schnell fort. Die Wärterin übergab dem jungen Mädchen ein Tuch mit Brod und Schweinefleisch und befahl ihr, am Rande des Waldes stehen zu bleiben und sie zu erwarten. Sie küßte sie darauf traurig und weinend und entfernte sich in derselben Richtung, welche der Kutscher eingeschlagen hatte, in den Wald. Die Verlassene wartete einige Zeit und ging dann in den Wald, um nach Bertha zu sehen. Als sie Niemand wahrnahm, ging sie an die ihr angewiesene Stelle zurück und wiederholte dies mehrere Male. Zuletzt drang sie tiefer in den Wald, rief lauter und lauter, aber Niemand antwortete. Sie sollte Bertha, den Kutscher und den Wagen nie wiedersehen.

Von der Hoffnung beseelt, mit ihrer Mutter vereinigt zu werden, sah sich die Arme jetzt auch von Bertha, ihrer Pflegerin und mütterlichen Freundin, verlassen. Ihr Gemüthszustand muß ein entsetzlicher gewesen sein. Drei Tage und vier Nächte brachte sie in dem Walde zu, ohne einen Menschen zu sehen, ohne die Fleisch- und Brodvorräthe ihres Tuches zu berühren. Es fror sie während dieser Zeit so anhaltend und in so hohem Grade, wie noch niemals, obschon sie warm gekleidet war und das Wetter während jener Tage im Verhältniß zur Jahreszeit angenehm genannt werden konnte. Am vierten Tage fand sie sich aus dem Walde hinaus und kam zu einem Wege, der an diesen angrenzte. Sie hatte sich hier niedergesetzt, als ein erwachsenes Mädchen mit einer Reisetasche am Arme daherkam. Beide wollten mit einander sprechen, verstanden sich aber nicht. Caroline ließ sich von der Fremden, welche ihr die Hand bot, führen. Sie kamen an ein Wasser, das so breit wie der Main bei Offenbach war. Eine Brücke führte über den Fluß, in der Nähe standen viele Häuser. Nie hatte Caroline eine Brücke und ein so großes Wasser gesehen, und sie fürchtete sich daher so sehr, daß ihre Begleiterin sie über die Brücke führen mußte. Weiterhin folgten mehre Häuser, also wohl ein Dorf. Die Fremde holte aus einem der Gebäude Nahrungsmittel (bettelte), und Caroline wartete inzwischen auf der Straße. Das Holen von Lebensmitteln wiederholte sich an diesem Tage mehrmals. Caroline war jetzt wieder in menschlicher Gesellschaft und dies ermuthigte sie so, daß sie zum ersten Male von ihrem Brode und Fleische aß. Auf dem Felde arbeiteten Leute, auch begegneten ihnen Wanderer, aber sie sprachen mit Niemand. Als es Nacht geworden war, traten beide in ein kleines Haus, neben dem noch andere Gebäude standen. Hier war blos eine Frau, die ihnen Suppe gab, worauf sie schlafen gingen. Caroline, die mit der jungen Fremden in einem Bette schlief, legte beim Entkleiden ihre Ohrringe ab und steckte sie mit ihrem Medaillon zusammen in die Tasche ihres Kleides. Die Fremde nahm aus ihrer Reisetasche ein grobes Hemd und gab es Carolinen, welche ihr eigenes feineres Hemd auszog und es zu ihren Kleidern legte. Indem sie so handelte, folgte sie ihrer Gewohnheit, ein Nachthemd anzulegen. Sie hatte in den letzten sechzehn Nächten in keinem Bett geschlafen, viel Sorgen und Kummer gehabt, und ihr Schlaf muß daher ein sehr fester gewesen sein. Als sie erwachte, war ihre Bettgenossin verschwunden und hatte Carolinens ganze Habe bis auf einen engen Kamm und jenes Tuch mit Brod und Fleisch mitgenommen, ihr zum Ersatz blos ihr eigenes grobes Hemd zurücklassend. Die Wirthin des Hauses, die mit der Diebin ohne Zweifel im Einverständniß war, gab ihr etwas Suppe mit Brod und alte Kleider, dieselben, mit denen sie in Offenbach erschien. In dieser fremden Kleidung ging Caroline, deren ganze Verzweiflung mit ihrem abermaligen Verlassensein wiederkehrte, fort, in welcher Richtung, war ihr gleichgültig. Wenn sie vor Müdigkeit nicht weiter konnte, setzte sie sich auf den Boden und weinte. Sie ist auf diese Weise noch zwei Tage und eine Nacht umhergeirrt. Am Abend des zweiten Tages trat sie in ein Haus, dessen Besitzerin ihr Brod und einiges Geld reichte, was sie beides zurückwies. Eine zweite Frau kam hinzu und diese wird mit der Wirthin bei einer kurzen Berathung zu dem Resultate gelangt sein, daß man keine Bettlerin, sondern eine ungewöhnliche Person vor sich habe. Caroline wurde also zu dem Bürgermeister des Ortes (Weiskirchen) und von diesem am folgenden Tage nach Offenbach geführt. Ihre weiteren Schicksale kennen wir.

Wir haben die Erzählung von Carolinens Schicksalen ohne Kritik gegeben, wie wir diese Erzählung in dem einzigen bis jetzt über sie erschienenen Werke[1] fanden. Ob außer der Bekanntmachung, die wir an der Spitze dieser Zeilen mittheilten, und außer polizeilichen Anfragen an auswärtige, namentlich österreichische Behörden zur Feststellung der Wahrheit oder Unwahrheit jener Erzählung etwas geschehen sei, wissen wir nicht. Man hätte nach unserer Ansicht vor allen Dingen den Versuch machen sollen, Carolinen den Weg, auf dem sie nach Offenbach gekommen ist, unter Begleitung auffinden zu lassen. Obgleich ihr geistiger Zustand und ihre Verzweiflung nach Bertha’s Verschwinden sie an genauen Beobachtungen verhindern mußten, sollte man doch meinen, daß sie, in der Umgegend herumgeführt, jenes große Wasser mit der Brücke, vor dem sie sich so sehr fürchtete, und weiter den

  1. Die langjährige unterirdische Haft zweier Kinder, nach den mündlichen Mittheilungen eines derselben, als Beitrag und Aufforderung zur Enthüllung dieses düstern Geheimnisses veröffentlicht von Friedrich Eck, Lehrer an der Volksschule zu Offenbach, Frankfurt a. M., 1856. Der Verfasser ist der Lehrer Carolinens.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_039.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2019)