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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

ein wachsamer Hund und wenn er wieder verstummte, regte sich kein Laut in der Nähe und Ferne. Die niedrigen Hütten lagen in der Dunkelheit schweigend da, wie ausgestorben. Der Himmel hatte sich mit schweren Regenwolken umzogen und ließ keinen Stern durchschimmern. Es war eine finstere, schwüle Nacht, recht geeignet für ein Verbrechen oder sonst eine unheimliche That. Mit leisen, kaum hörbaren Schritten eilte der Actuar, wie ein flüchtiger Schatten an den Häusern vorüberschlüpfend, durch das Dorf. Bald hatte er den Ausgang erreicht und jetzt schlug er einen Seitenpfad ein. Der Weg führte ihn an dem Kirchhofe vorüber. Trotz seines Unglaubens konnte er sich eines leisen Schauers nicht erwehren. Er beschleunigte seine Schritte, um aus der Nähe der Todten zu kommen. Es war da das Grab eines jungen Mädchens, das sich vor vielen Jahren um seinetwillen in den Mühlbach gestürzt hatte. Er konnte die Erinnerung an die arme Madlena nicht los werden. Dort an dem schwarzen Kreuze glaubte er ihre bleiche Gestalt zu erblicken. Eilig flog er vorüber und über die schmale Brücke, unter der das Wasser floß, worin ihre Leiche gefunden wurde. Auch da folgte ihm ihr Schatten nach. Eine dunkle Gestalt bewegte sich näher und näher; dem Actuar stand das Haar unwillkürlich zu Berge; er wurde von einem plötzlichen Schwindel gefaßt, der zum Theil wohl von den reichlich genossenen Getränken herrühren mochte. Seine Füße wankten, nur noch ein Schritt und er stürzte von dem Hohlsteg in die Fluth, welche an dieser Stelle mehrere Fuß tief war, wenn ihn nicht eine starke Hand zurückgehalten hätte.

„Erbarmen!“ stöhnte der arme Sünder, welcher seine Besinnung verloren hatte.

„Wollt Ihr denn mit aller Gewalt Euch in das Wasser stürzen?“ fragte ihn eine Stimme, die ihm nicht fremd war.

„Wie, Du bist es, Pawel?“ rief er, durch den Schreck nüchtern geworden.

„Freilich! Ich bin es, Herr Actuar,“ antwortete der Schmiedegeselle, der trotz der Dunkelheit den Actuar sogleich erkannt hatte.

„Ich hörte ja, daß Du gefangen seist,“ bemerkte dieser verwundert.

„Ich habe mich losgemacht und bin glücklich aus dem verwünschten Kerker entkommen. Wie, erzähle ich Euch ein anderes Mal, da ich jetzt keine Zeit habe.“

„Das glaub’ ich gern; aber was willst Du denn nun beginnen?“

„Ich weiß es nicht. Am besten wird es wohl sein, wenn ich über die Grenze nach Polen fliehe. Dort sucht mich kein Mensch.“

„Das geht nicht so leicht,“ sagte der Actuar, den ein plötzlicher Gedanke durchzuckte. „Ich will Dir einen bessern Vorschlag machen, wie Du hierbleiben und Dich an Deinen Feinden rächen kannst. Das ist doch Deine Absicht?“

„Ihr könnt noch fragen?“ antwortete Pawel, indem er bei der Erinnerung an die erlittene Beschimpfung mit den Zähnen knirschte.

„So ist es recht!“ lachte der Actuar, der seine frühere Gespensterfurcht wieder gänzlich überwunden hatte und in Pawel ein willkommenes Werkzeug für seine Pläne sah. „So ist es Recht; es gibt kein süßeres Gefühl, als die Rache, und ich will Dir dazu behülflich sein. Ich habe ohnehin eine Rechnung mit dem Herrn Baron und seinem Verwalter abzumachen, der Dir so übel mitgespielt hat. Ich will Dir die Mittel und Wege schon angeben, wenn Du mit mir kommst.“

„Wohin?“

„In die Waldschenke, wo ich einstweilen meine Wohnung aufgeschlagen habe; dort bist Du sicher, wie in Abrahams Schooß.“

Einen Augenblick schwankte Pawel, ob er seinem Begleiter nach der verrufenen Spelunke folgen sollte, wo sich allerlei Gesindel, Schmuggler, Wilddiebe und ähnliche Gesellen, welche mit der Polizei auf gespanntem Fuße leben, aufzuhalten pflegten. Aber der Durst nach Rache und die wahrhaft dämonische Beredsamkeit des Actuars besiegten seine Bedenklichkeiten. Durch die erduldeten Mißhandlungen war der Schmiedegesell so verwildert und empört, daß er dem Versucher nicht widerstehen konnte, der ihn mit sich fortriß.




IV.

In dieser Gegend Oberschlesiens gab es damals und gibt es vielleicht heute noch einzelne Waldstrecken, so undurchdringlich und dicht, wie die Urwälder Amerika’s. Tausende von Stämmen stürzen dort und verfaulen ungenützt und auf dem von Baumleichen gedüngten Boden steigt ein neues Geschlecht von Kiefern und Fichten, von Birken und Rüstern empor in wilder Ueppigkeit. Der Boden ist glatt von den abgefallenen Nadeln und schlüpfrig von dem Moder der verwesenden Pflanzenwelt, für Wagen und Pferde vollkommen unzugänglich, da der Regen keinen Abfluß hat und das zähe Erdreich wegen mangelnden Zutritts der Sonne und des Windes nie vollkommen austrocknet. Selbst am Tage herrscht daselbst eine tiefe Dämmerung, ein unheimliches Schweigen. Da gibt es keine sichern Wege; nur selten betretene Fußpfade dienen dem Verbrecher und Schmuggler auf seinen verborgenen Wanderungen. Selbst der kühnste Jäger wagt sich nicht in dieses Dickicht, wo dorniges Gestrüpp und junger Nachwuchs ihm den Zugang abwehren und die Kugel des Wildschützen ihn aus sicherem Verstecke treffen kann. Manche Leiche mag dort begraben liegen unter weichem Mose und dem dürren Blätterschutt, der an vielen Stellen fußhoch aufgethürmt liegt.

Meilenlang dehnt sich oft ein solcher Wald und bildet häufig die Grenze zwischen dem preußischen und polnischen Gebiete, ein willkommener Schlupfwinkel für die beiderseitigen Ueberläufer, welche hier eine sichere Zuflucht finden. So hat auch diese Wildniß ihre Bewohner und ein gewisser Verkehr herrscht auch in der Einsamkeit; denn wohin wird nicht der Fuß der Menschen von Verzweiflung oder Furcht vor der Strafe getrieben?

In der Nähe eines derartigen Waldes lag die Schenke, wohin der Actuar seinen Schützling brachte. Es war fast Mitternacht vorüber, als sie daselbst anlangten; ein schwacher Lichtschimmer verkündete, daß der Wirth und vielleicht noch einige Gäste wachten. Lautes Hundegebell ertönte und in der Dunkelheit der Nacht sprang ein wildes Thier von der Schwelle knurrend empor und wehrte zähnefletschend den Eingang. Der Actuar schien hier vollkommen Bescheid zu wissen; er stieß ein eigenthümliches Geschrei aus, das dem Geschrei eines Raubvogels glich. Alsdann wurde der Riegel an der Hausthür zurückgeschoben und dieselbe vorsichtig nur halb geöffnet.

„Wer ist da?“ fragte eine hohle Stimme.

„Ich bin es, der Actuar!“

„Aber Ihr kommt nicht allein.“

„Es ist ein Freund; mach nur schnell auf, Tomek, denn das Gewitter wird bald losbrechen. Der Wind heult schon in den Bäumen.“

In der That hörte man, das Brausen des Sturmes und das ferne Rollen des aufziehenden Gewitters. Der Wirth öffnete vollends die Thür und ließ die späten Wanderer herein. Pawel trat in ein wüstes Zimmer, welches spärlich von einer Oellampe erleuchtet wurde. Auf dem bloßen Boden, der nicht einmal gedielt war, und in der Nähe des Ofens lagen einige wilde Gestalten in ihren zerlumpten Kleidern. Sie fuhren beim Eintritt der Fremden mit ängstlichen Mienen empor. Sobald sie sich jedoch überzeugt hatten, daß sie nichts zu fürchten brauchten, drehten sie sich brummend wieder auf die Seite und schliefen schnarchend ein. In der Mitte stand ein elender Tisch, um den mehrere Männer auf Holzblöcken und leeren Fässern in Ermangelung von Stühlen und Bänken saßen. Sie schienen den Actuar erwartet zu haben. Pawel erkannte einige Bauern aus der Umgegend, berüchtigte Subjecte, aber auch darunter Andere von untadeligem Rufe, die sich in einer solchen Gesellschaft nicht ganz wohl zu fühlen schienen.

„Zum Teufel!“ rief ein breitschulteriger Geselle mit verwogenem Gesicht, „wo seid Ihr denn so lange geblieben? Wir haben schon geglaubt, daß Euch ein Unglück begegnet sei.“

„Das nicht, aber man kommt nicht so bald wieder los, wenn man einmal unten im Dorfe ist.“

„Nun, wie steht’s und wen habt Ihr uns da mitgebracht?“

„Einen braven Burschen, den ich kenne und für den ich mich verbürge. Er wird seine Schuldigkeit thun.“

Die Anwesenden reichten dem ihnen so empfohlenen Pawel ihre Hände und tranken ihm aus der auf dem Tische stehenden Flasche zu.

„Ihr habt ihn doch in Alles eingeweiht?“ fragte der vorherige

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_047.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)