Seite:Die Gartenlaube (1858) 060.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Es war mir spät geworden. Ich war mit den wichtigeren Acten fertig. Die wichtigeren[WS 1] Acten sind meist zugleich die dickeren. In den unbedeutenderen und dünneren konnte ich mich morgen während der Termine informiren und orientiren.

Ich wollte mich nach Hause begeben. Da trat noch ein Gefangenwärter in mein Zimmer. Er trug ein versiegeltes Schreiben. Er übergab mir dieses, und meldete, daß die Gefangene, die es betreffe, gleichzeitig mit dem Schreiben in der Gefängnißexpedition abgeliefert sei.

„Es scheint eine vornehme Dame zu sein,“ setzte der Mann hinzu.

„Eine Dame?“ fragte ich.

„Sie ist in schwarze Seide gekleidet.“

„In schwarzer Seide gehen auch andere, als vornehme Damen.“

„Der Polizeicommissarius, der sie arretirt hatte und selbst zum Gefängnisse ablieferte, brachte sie in einer Droschke.“

„Wie sieht sie sonst aus?“

„Sie ist noch jung und ein sehr schönes Frauenzimmer.“

„Ist sie schon in eine Zelle gebracht?“

„Sie ist noch in der Expedition. Der Herr Inspector wollte ihr ohne nähere Bestimmung des Herrn Criminalraths keine Zelle anweisen. Die Gefangene verlangte auch, sofort den Herrn Criminalrath zu sprechen.“

„Mich?“

„Sie verlangte, wenn Sie nicht im Local seien, daß man sogleich zu Ihnen schicke.“

„Gab sie einen Grund an?“

„Gott bewahre. Sie verlangte das Alles in vornehmem Tone, als wenn sie in den Gefängnissen zu befehlen habe.“

Ich ließ den Gefangenwärter warten, um zuerst das Schreiben zu lesen. Ich war zugleich neugierig geworden. Vornehm gekleidete Damen wurden in die Criminalgefängnisse oft eingebracht; es ergab sich aber bald, daß sie trotz ihrer seidenen Kleider und Wiener Shawls gemeine Verbrecherinnen aus den untern Classen waren. Die jetzt eingelieferte Gefangene schien mir jedoch, zumal da auch der Polizeicommissarius jene Rücksichten gegen sie genommen hatte, allerdings den höhern Ständen anzugehören. Dann aber mußte es wieder auffallend erscheinen, daß sie, anstatt durch die Schande einer criminalgerichtlichen Verhaftung und Einsperrung niedergedrückt zu sein, so vornehm, so befehlend, so hochmüthig auftrat.

Ich wurde noch mehr überrascht und neugierig, als der erste flüchtige Blick in das geöffnete Schreiben mir zeigte, daß sie wegen Diebstahls verhaftet sei.

Ich las das Schreiben schnell weiter durch. Es war der Bericht des Polizeicommissarius, der die Gefangene arretirt hatte, über den Grund ihrer Verhaftung. Es war kurz; der Beamte behielt sich vor, die näheren Umstände morgen zum gerichtlichen Protokoll anzugeben.

Die Gefangene nannte sich Rosa von Heisterberg, war nach ihrer Angabe dreiundzwanzig Jahre alt, evangelischer Religion, unverehelicht. Sie war seit einem Vierteljahre in der Residenz, und zwar bis vor wenigen Wochen als Gesellschafterin der verwittweten Majorin von Waldheim. Diese war von ihr bestohlen um mehrere Summen Geldes, zum Betrage von einigen hundert Gulden. Die Majorin hatte die Diebstähle theilweise schon früher bemerkt, ohne gegen Jemanden, namentlich auch gegen ihre Gesellschafterin, einen bestimmten Verdacht fassen zu können. Erst heute war ihr zur Gewißheit geworden, daß die Heisterberg die Diebin sei.

Die Gefangene gehörte also wirklich den höheren Ständen an. Sie hatte wenigstens in der höheren Gesellschaft gelebt. Die Majorin von Waldheim bewohnte ein, wenn auch nicht großes, glänzendes, doch von den Mitgliedern der höchsten Gesellschaft der Residenz besuchtes Haus. Sie selbst hatte Zutritt in den Hofzirkeln, und war in diesen gern gesehen.

Die Verhaftung der Gesellschafterin dieser Dame mußte Aufsehen machen. In der ganzen Residenz, auch am Hofe, mußte man morgen davon sprechen, und am Hofe am meisten. Wo keine Oeffentlichkeit des Criminalverfahrens ist, überwacht das Publicum, namentlich das näher interessirte, eine Criminalsache, die einmal die öffentliche Aufmerksamkeit erregt hat, mit desto schärferen und in der Regel mißtrauischeren und böswilligeren Augen. Nun gar der Hof. Andererseits hatte die Gefangene mich sprechen wollen, und der Gefängnißinspector war über ihre Unterbringung in Verlegenheit, und erwartete meine Bestimmung darüber. Ich begab mich in die Gefängnißexpedition.

Die Gefangene war noch dort mit dem Inspector.

War ich bisher erstaunt gewesen, ich wurde es noch mehr. Ich sah eine große, schöne, stolze, jugendliche Frauengestalt vor mir. Auch das schöne, fein geschnittene, aber längliche und etwas blasse Gesicht zeigte Stolz, besonders die aristokratisch gebogene Nase und ein paar lebhafte hellblaue Augen. Andererseits glaubte ich freilich um die zart aufgeworfenen Lippen ein inniges, gar weiches Gefühl zu lesen, und die hellen Augen schienen durch ihren lebhaften und stolzen Blick selbst einige Schwärmerei hindurchleuchten zu lassen.

Die Gefangene saß, als ich eintrat, dem Anscheine nach sehr ruhig. Von Niedergeschlagenheit war keine Spur in ihrem Aeußeren zu finden. Viel weniger sah man ihr irgend eine Aengstlichkeit an. In tiefes Nachdenken versunken war sie allerdings.

Der Gefängnißinspector war mit Arbeiten beschäftigt.

Sie stand auf, als sie mich sah. Meine Ankunft mit dem Gefangenwärter und das Schreiben, mit dem sie eingeliefert war, in meinen Händen, konnte sie nicht zweifelhaft lassen, daß ich der Verhörrichter sei, den sie zu sprechen begehrt hatte. Ohne meine Anrede abzuwarten, trat sie mir entgegen.

„Herr Criminalrath, Sie haben dieses Schreiben gelesen?“

„Ich habe es gelesen.“

„Ich kenne die Gesetze, mein Herr, auch die hiesigen, wenngleich weniger, als andere. Ich weiß danach, daß Sie auf Grund dieser Anzeige des Polizeicommissarius mich vorläufig zur Haft nehmen müssen.“

„So ist es.“

„Sie können mich danach nicht sofort für unschuldig halten?“

„Nein.“

„Sie würden dies auch nicht können, wenn ich Sie auch etwa bitten wollte, mich noch jetzt in der Nacht zu vernehmen, Sie die Güte hätten, meiner Bitte zu willfahren, und ich Ihnen nun meine Unschuld betheuerte, und Ihnen dafür sehr dringende Beweise brächte?“

„Wenn Sie mir Ihre Unschuld sofort beweisen könnten, so würde ich Sie auf der Stelle freilassen können, gar müssen. Allein –“

„Entschuldigen Sie, ich habe mich nicht genau ausgedrückt, wenigstens nicht nach Ihrer juristischen Sprachweise. Ich hatte sagen wollen: wenn ich Ihnen dringende Beweismittel an die Hand gäbe.“

Ich hatte ihre Worte so aufgefaßt.

„Die bloße Angabe von Beweismitteln würde Ihre Freilassung nicht rechtfertigen können. Erst deren – ich darf mit Ihnen in den technischen Ausdrücken sprechen?“

Sie nickte.

„Erst deren Aufnahme würde über das fernere Verfahren entscheiden.“

„Und mit der Aufnahme selbst würden Sie in der Nachtzeit schwerlich noch verfahren mögen?“

„Mögen? Es kommt mir nur auf das Können an.“

„Ich glaube Ihnen. Und das Können – ich sehe ein, es kann heute nicht mehr geschehen. Ich muß also für heute Nacht in der Haft bleiben. Ich werde auch“ – setzte sie mit einem eigenthümlichen, halb schmerzlichen und halb spöttischen, verächtlichen Lächeln hinzu – „ich werde auch noch wohl längere Zeit hier bleiben müssen. Sie haben in Ihrem Lande, freilich auch in den meisten andern Ländern, die sich civilisirte nennen, gerade gegen Angeklagte Gesetze einer sonderbaren Civilisation. Indeß, nicht um hierüber mit Ihnen zu disputiren, habe ich gebeten, Sie noch heute sprechen zu dürfen. Ich habe eine andere Bitte an Sie.“

„Sprechen Sie sie aus.“

„Wie Sie mich nicht auf der Stelle für unschuldig halten können, werden Sie mich auch nicht von vornherein als eine Verbrecherin, als die überwiesene Diebin ansehen wollen?“

„Ich halte, mit unseren Gesetzen, keinen Angeschuldigten für einen Verbrecher, als bis er überführt, überwiesen ist.“

„Sie werden mich dann auch nicht als eine Verbrecherin, als Diebin behandeln?“

„Ich werde Sie, ich kann Sie aber auch nicht anders behandeln,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wichteren
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_060.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)