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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

schon nicht mehr auf ihn; er stieg, er sprang vielmehr die Staffeln blitzschnell hinab und verschwand um die Hausecke.

Wilhelm war außer sich; ein fremder junger Mensch schaute aus Minettens Kammer heraus; er mußte sich augenblicklich Aufklärung darüber verschaffen, was er sich dabei zu denken habe, und deshalb stürmte er fort, in’s Haus hinein.

Als er in die Thüre trat, erschien eben Minette aus dem Wohnzimmer links und wollte eilig über die Flur, die Treppe nach oben zu, um den Fremden, den sie dort hinaufgeschickt hatte, herunterzuholen und fortzuschaffen.

Aber Wilhelm ergriff sie am Arme.

„Minette!“ sagte er, „Jungfer Minette!“

„Nun, was ist’s?“

Er antwortete nicht, er schien vor Zorn die Sprache verloren zu haben – er deutete todtenbleich auf den großen schönen Strauß, den Minette in den Gürtel gesteckt hatte.

„Was ist’s?“ sagte sie noch einmal, bebend in die eine fürchterliche Leidenschaft spiegelnden Züge Wilhelms blickend.

„Was bedeutet der Strauß?!“ flüsterte er jetzt mit vor Wuth halb erstickter Stimme, „von wem hat Sie den Strauß?“

„Den Strauß? Den hat mir eben ein Fremder gegeben!“

„Ein Fremder! ja, ein Fremder! o, ich weiß, wie fremd er Ihr ist – Sie Abscheuliche, – o, Alles, Alles weiß ich – weiß, was der Strauß bedeutet, was die dunkelrothe Nelke heißt – und ich Esel, ich mußte selbst den Strauß schneiden, darum war dieser Fremde so eigensinnig versessen darauf, daß ich den Strauß bände, damit er und Sie über mich spotten und mich verhöhnen könnten – und darum wollte Sie mich durchaus für den Abend in’s Wirthshaus senden – sieht Sie, daß ich Alles weiß, Sie Schlange, Sie Lügnerin, Sie …“

„Wilhelm – nein, wahrhaftig, Wilhelm, Er ist rein toll geworden!“

„Nun, zum Tollwerden ist’s freilich! So belogen und betrogen zu werden!“

„Wer hat Ihn betrogen?“

„Sie!“

„Mit dem Strauß? Ist’s denn nicht Alles heller Wahnsinn, was Er spricht?“

„Sie leugnet’s noch! Sie leugnet wohl noch gar, daß Sie den Fremden oben in Ihrer Kammer verborgen hat? O, Sie Falsche, Hinterlistige, Gottlose ... aber warte Sie nur, das soll der Vater erfahren, mit eigenen Augen soll er’s sehen, wie Sie’s treibt!“

Und damit stürzte der Mensch, der sich in eifersüchtiger Wuth selbst nicht mehr kannte, zum Hause wieder hinaus, um im Garten nach dem Vater des Mädchens zu suchen.

Minette, welche sich bis jetzt von all’ den Vorwürfen, die so plötzlich über sie ausgeschüttet wurden, nicht hatte die Geistesgegenwart rauben lassen, da sie sich ihrer vollständigen Unschuld bewußt war, begann nun dennoch, diese Geistesgegenwart zu verlieren. Den Vater fürchtete sie. Er war ein strenger, zorniger Mann. Er war leider – wir müssen es zur Steuer der Wahrheit gestehen – ein stiller Verehrer des landesüblichen Traubensaftes. Während diese Neigung Meister Allgeyer’s Cerebralthätigkeit eben nicht zu höherer Intelligenz verfeinert hatte, waren dadurch die cholerischen Theile seines Temperaments, die biliösen Elemente seines Organismus, in einer Weise verstärkt und ausgebildet, daß er außerordentlich stürmischen Zornanfällen ausgesetzt war, wobei er das vollständige Abbild jenes Dänen wurde, von dem es im Hamlet heißt:

You can not speak of reason with the Dane,
And loose your words!

denn alle Worte der Vernunft waren in solchen Augenblicken an Meister Allgeyer vollständig verloren, ja rein verschwendet.

Minette bekam deshalb einen tödtlichen Schrecken bei der Drohung Wilhelms, ihren Vater herbeirufen und sie vor ihm anklagen zu wollen … mochte sie so unschuldig an Allem dem, was Wilhelm ihr vorwarf, sein, wie sie wollte, – wenn er den Vater zuerst erreichte und ihm mit seinen tollen Geschwätz den Kopf erhitzte, nachher war sie verloren. Deshalb sprang sie Wilhelm nach, strebte, ihn am Arme zurückzuhalten, versuchte, ihn zum Bleiben, zum ruhigen Anhören zu bewegen, gab ihm alle möglichen guten Worte und gelangte, während er fortfuhr, seine eifersüchtigen Anklagen hervorzusprudeln, immer weiter von dem Gärtnerhause fort, in die Gebüsche der Anlagen hinein.

Der junge Mann, den wir oben in Minettens Kammer gelassen haben, war unterdeß, nachdem er sich noch einmal mit seinem lächelnden Fürwitz da umgesehen, zurück und wieder auf den Corridor gegangen, von dem Minette ihn herabholen zu wollen versprochen hatte. Er vernahm den lauten Wortwechsel unten, ohne verstehen zu können, um was es sich handelte. Leise ging er der Treppe näher; aber in diesem Augenblicke entfernte sich der eifrige Stimmenwechsel und verlor sich dann außer dem Hause in den Garten hinein.

Der Fremde schritt nun behutsam die Treppe hinunter. Die größte Stille herrschte im ganzen Hause. Unbehütet lag es da, die Hausthüre offen, offen auch die Thüre rechts, in welche Minette vorhin eingetreten war, nachdem sie den Fremden so eilig und erschrocken die Treppe hinaufgesandt hatte.




IV.

Der Fremde schien entweder eine sehr neugierige oder eine sehr beobachtungssüchtige Natur. Jedenfalls fehlte es ihm nicht an einer gewissen Dosis von unbefangener Keckheit, denn mit dieser trat er, statt das Häuschen, in welchem er doch im Grunde ganz und gar nichts zu suchen hatte, jetzt zu verlassen, in die offene Thüre rechts. Sie führte in das Putz- und Visitenzimmer Meister Allgeyer’s; es war sehr blank und rein gescheuert, die Stühle und Tische standen in der schönsten Ordnung da, der Thüre gegenüber blähte sich breit der Luxus eines schönen Sopha’s aus Kirschbaumholz und auf der Commode unter dem Spiegel standen auf weißer gehäkelter Decke allerlei altfränkische Nippsachen, kleine Schäferfiguren in sächsischem Porzellan, ein Topf mit Potpourri und das unvermeidliche Kaffeegeschirr mit rothgeblümten Schalen. Die Wände waren geweißt, aber statt der fehlenden Tapeten hatten allerlei illuminirte schöne Kupferstiche, auf denen Paul und Virginie in den zärtlichsten Situationen ihres rührenden Lebenlaufes oder der alte Fritz in den hervorragendsten Momenten seiner Heldenlaufbahn dargestellt waren, die Kosten der Ausschmückung übernommen.

So unterschied sich denn der Raum in nichts von anderen Stübchen gleicher Bestimmung in jener guten bescheidenen Zeit; es war nichts da, was verdiente, die Blicke so lange zu fesseln, als der Fremde sich in diesem Raume aufhielt. Und von dem Stübchen wurden seine Blicke auch in der That nicht gefesselt; sie flogen durch dasselbe hindurch in einen zweiten dahinter liegenden Raum, in welchen er hineinschaute und an dessen Ende sich ihm ein Anblick darbot, der ihn anzog. In der Ecke dieser Hinterstube nämlich war eine dunkle Vertiefung angebracht, welche von dem jungen Manne im ersten Augenblicke für ein hohes Kamin gehalten wurde, dann aber, bei näherem Hinsehen sich als Eingang in eine tiefliegende Räumlichkeit darstellte, zu groß freilich, um etwa als Eingang in gewöhnliche Kellerräume zu dienen. Darauf zuschreitend sah der junge Fremde, daß eine Treppe von vielleicht zehn Stufen hier ziemlich steil hinabführte, und zwar in einen Gang, der unter der Erde fortlief. Der Eingang über der Treppe war gewölbt aus rohen Tuffsteinen, die kunstreich so gelegt schienen, daß sie hie und da kleine Lücken ließen, durch welche Licht eindrang. Auf dem bituminösen Gestein der Wände wucherten Schlingpflanzen. Unten war der Gang mit glänzend reingehaltenen Fließen ausgelegt, die schwarze und rothe Carreaux bildeten.

„Der Herr Gärtnermeister scheint sich hier ein unterirdisches Tusculum angelegt zu haben,“ sagte unser junger Freund, indem er die Stiegen hinabschritt und aufmerksam die ganze Einrichtung und die Structur der Wände betrachtete. Nachdem er etwa zehn Schritte in dem dämmernden Raume vorwärts gemacht, gelangte er an eine Wendung und, um diese einbiegend, sah er sich in ein Stück des Ganges versetzt, das durch zahlreichere und größere Oeffnungen im Gestein der Decke noch besser erhellt war. Die herabhängenden Schlingpflanzen zeigten sich hier noch reicher geordnet, und mit ihrem hellen, schwach gefärbten Grün, das wegen Mangel an freier Luft nicht zur völligen Entwickelung gediehen war, bildeten sie ein Relief für kleine weiße Büsten, die auf den vorspringenden Ecken der Tuffsteine, wie auf natürlichen Consolen standen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_090.jpg&oldid=- (Version vom 6.10.2020)