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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Ueberrascht schritt der Fremde weiter in diese merkwürdige anmuthende kleine Unterwelt. Er musterte die Büsten und sah, daß sie berühmte Philosophen und Dichter der Vorzeit darstellten: Homer, Virgil, Sokrates, Plato, Sophokles, Aristophanes. Als er weiter schritt, kamen auch Voltaire, Rousseau, Pope und Gibbon zum Vorschein.

Der Fremde wandelte immer tiefer in den Grottengang hinein, mit einer gewissen Behutsamkeit sachte auftretend, als ob er scheu einer merkwürdigen Entwickelung dieser mysteriösen Anlage entgegenschreite. Noch einmal kam eine Wendung, und dieser folgend, hatte der junge Mann nun plötzlich einen Anblick, der in der That nicht überraschender, fesselnder, unerwarteter sein konnte. Durch eine schmale Bogenwölbung sah er in ein rundes Gemach, dessen Decke etwas höher aufgewölbt war, wie der Gang. In der Mitte dieser Wölbung hing eine Ampel nieder, während unten ein farbiger, aus Aloefasern geflochtener, sogenannter indianischer Teppich den Boden bedeckte. Rings an den Wänden umher lief eine zierlich aus rohem, noch mit seiner Rinde bedeckten Holze verfertigte Bank, während die Wände darüber, so wie im Gange, Schlingpflanzen und Büsten, nur zahlreicher und größer, trugen. Im Hintergrunde der kleinen Rotunde aber war eine Nische, eine Art kleiner Absis, wie in einer byzantinischen Kirche, angebracht, und in dieser stand über zwei Stufen erhöht ein mit einem grünen Tuche bedeckter Tisch, der um so mehr an einen Altar erinnerte, als ein einfaches Kreuz aus schwarzem Ebenholz sich darüber erhob, während mehrere Bücher darauf lagen.

Auf der Bank zur Rechten dieses Altars saß eine hohe weißgekleidete Frauengestalt.

Als der Fremde in dem Raume erschien, hob sie wie erschrocken das Haupt, während zugleich ein offenes Buch von ihrem Schooße auf den Boden niederglitt.

Der junge Mann stand wie angewurzelt. Er starrte mit großen Augen in ein unbeschreiblich edles, von blonden Locken umwalltes Gesicht mit feingeschnittenen Zügen, in denen sich die ausgebildetste Intelligenz aussprach, während der volle weiche Mund das Gepräge vollendeter Herzensgüte trug. Der Teint schien mehr bleich als frisch, falls dies nicht die Wirkung des Lichtes war, welches nur gedämpft und gebrochen durch die in der Decke gelassenen Lücken eindringen konnte.

Ein leises „Ah – wer ist’s?! was wollen Sie?!“ tönte jetzt dem Fremden entgegen, mit einer Stimme, in welcher er den Ausdruck eines gewissen Unwillens über sein Erscheinen nicht verkennen konnte.

„Verzeihung,“ versetzte er deshalb ziemlich schüchtern, „ich konnte nicht denken, daß ich mich störend in eine vielleicht geflissentlich gesuchte Einsamkeit dränge, als ich diesen seltsamen Gang betrat.“

„Wer hat Sie hereingelassen?“ fuhr die Dame mit einer Stimme fort, welche zeigte, daß ihr Unwille sich nicht gemildert hatte.

„Niemand; der Zufall hat mich geführt, ein glücklicher Zufall!“ versetzte er mit einer Ruhe, welche jetzt seine volle Zuversicht zurückgekehrt zeigte.

„Sie haben sehr unrecht, ihn glücklich zu nennen, mein Herr, am wenigsten wird er glücklich für die sein, welche den Befehl von mir haben, hier jede Störung von mir fern zu halten.“

Der junge Mann ließ sich durch diese strengen Worte nicht irre machen. Mit ruhiger Bestimmtheit antwortete er:

„Kann ich es denn einen unglücklichen Zufall nennen, der mir ein bezauberndes Bild, wie aus der Phantasie eines Dichters geboren, traumhaft schön und dennoch kein Traum, vor Augen stellt? Die Dichter sind selten so glücklich, daß ihnen die Wirklichkeit so holde Erscheinungen, so phantastisch, ja märchenhaft umrahmt, enthüllt. Sie sind leider nur zu sehr darauf angewiesen, mühsam und arbeitsvoll aus sich selbst Alles das zu schöpfen, womit Andere erfreut und erhoben werden. Darum verzeihen Sie mir und treiben Sie mich nicht sofort von hinnen, holde Gottheit dieser Grotte, bevor mir noch vergönnt wurde, Sie zu verehren!“

Bei diesen Worten trat der Fremde näher, ließ sich auf ein Knie nieder und, wie um einer solchen Huldigung das Auffallende oder gar Komödiantenhafte welches darin erblickt werden konnte, wieder zu nehmen, hob er das niedergefallene Buch vom Boden auf, um es der Dame zu überreichen.

„Sind Sie ein Dichter?“ fragte diese mit milderem Tone, indem sie das Buch annahm.

„Ob ich es bin? Ich weiß es nicht, aber ich träume es.“

„Das ist gefährlich.“

„Weshalb?“ fragte der Fremde.

„Weil es zu träumen gar oft auf Abwege führt.“

„Abwege führen oft zu holden Zielen, wie ich eben erfahre!“

„Wissen Sie denn, an welches Ziel Ihr heutiger Abweg Sie geführt hat? Vielleicht an ein sehr schlimmes, wenn ich Ihren Vorwitz strafte!“

„Eine Strafe würde nur dazu dienen, mir das Bild, welches ich vor mir habe, für immer noch unauslöschlicher in die Seele zu prägen. Wie man Kinder straft, blos damit sie eines denkwürdigen Ereignisses sich in ihrem Alter besinnen!“

Die Dame lächelte,

„Wollen Sie mich bestrafen?“ fuhr der Fremde, noch immer knieend, fort.

„Nein,“ antwortete sie, „erheben Sie sich.“

Der junge Mann stand auf.

„Gehen Sie jetzt! Und ich vertraue Ihnen bei Ihrer Ehre, daß Sie weder über diesen Ort, noch über diese Begegnung gegen irgend Jemanden indiscret sind.“

„Sind wir nicht immer darauf angewiesen, das Schönste, Herrlichste, was in unser Leben tritt, ängstlich vor der Welt Augen zu verschließen? Verlassen Sie sich darauf, ich werde diese Stunde eifersüchtig und behutsam vor jedem Sterblichen geheim halten.“

Können Dichter schweigen?“ fragte die Dame.

„Gewiß! Es lehrt sie die Stunde der Inspiration, wo die Trunkenheiten des Schaffens über uns kommen und uns Dinge begehen lassen, auf welche wir um Vieles, ja, um Alles in der Welt nicht das Auge eines Sterblichen blicken lassen möchten!“

„Haben Sie oft solche Trunkenheits-Anfälle? Sie reden davon, daß man sich vor Ihnen beinahe fürchten sollte!“

Der Fremde lächelte.

„Seien Sie ruhig, edle Frau, diese Trunkenheit ist höchstens die eines Kindes, welches entzückt die hellen Himmelslichter über seinem Haupte anjubelt und gleich darauf in Wehmuth versinkt, daß seine Arme nicht bis dahinauf langen, um sie sich herunter zu holen. Die Dichter sind eben so. Sie schwanken zwischen dem Rausch eines unendlichen Lebensmuthes, wo der Muth nicht allein für dieses Leben, sondern auch für alles andere Leben, für das des Jenseits, des Himmels und der Unterwelt ausreicht; wo er Alles umfassen, in Alles jubelnd sich stürzen zu können wähnt und die Welt umarmt, wie ein anvertrautes Weib, das sich von ihm lieben lassen muß: und dem grenzenlosen Jammer, daß die Sterne so hoch sind, die Wolken unsere Schritte für ein sonnenhohes Wandeln nicht tragen, die Welt nichts als ein durch und durch falsches, treuloses Wesen ist … das ist unser Loos, edle Frau, und in diesem Hin- und Herfluthen unserer Gefühle würden wir untergehen, wenn wir nicht auf unserm Lebensgange einen freundlich rettenden Genius finden, der uns hilft uns wiederfinden, wenn wir uns verloren haben, der uns zuruft, wie der Herr dem Petrus, als er auf dem See Genezareth wandelte und im Begriff war, in den Wogen zu versinken!“

Die Dame blickte den jungen Mann, während er so redete, mit Zügen an, in welchen sich ebensoviel Ueberraschung als Theilnahme spiegelte, während ihr Auge so mild und gütig auf ihm ruhte, daß er fortfuhr:

„Hätte ich heute einen solchen Genius gefunden, eine Hand, die sich mir böte – o, ich wollte sie verehren gleich der einer Heiligen, wie wollte ich sie an mein Herz drücken, diese Hand, an meine Lippen …“

Er knieete dabei noch einmal vor der Dame nieder, und indem er ihre Hand ergriff, versuchte er sie mit leidenschaftlicher Bewegung an seine Lippen zu führen.

Aber sie entzog ihm rasch diese Hand und sagte mit ernstem, zurückweisendem Tone:

„Gemach, gemach, mein Herr Dichter, lassen Sie sich von Ihrer Phantasie nicht zu Thorheiten fortreißen. Eines Genius, der auf die zu hoch gehenden Wogen das Oel der Besonnenheit ausgieße, scheinen Sie allerdings zu bedürfen. Aber lassen Sie die Hoffnung fahren, vom Baume des Lebens, um dessen goldene Früchte Sie bisher, wie ein Kind um den Weihnachtsbaum, geschwärmt zu haben scheinen, auch einen schönen Genius im weißen Kleide und mit rosafarbenen Schwingen pflücken zu wollen, wie ihn die Kinder ja auch oben auf ihren Weihnachtsbäumen finden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_091.jpg&oldid=- (Version vom 3.10.2020)