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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

ihres Grases nicht beraubt worden waren. Dies konnte nur geschehen wegen eines zeitigen und bleibenden Schneefalls, der sich durch Anschmelzen mit den Grashalmen fest verband und dann, da diese Verbindung eine vieltausendfältige ist, die ganze Schneemasse so fest an den begrasten Boden haften läßt, daß sie daran nicht herabgleiten kann. Dies hat die Alpenbewohner in Wallis auf den glücklichen Einfall gebracht, die Lauinen gewissermaßen festzunageln. Auf solchen Ursprungsstätten der Lauinen, fast immer fette Alpentriften, schlägt man in etwa fußweiten Abständen Pflöcke in den Boden, die alsdann den den Winter über fallenden Schnee festhalten und ihn nur allmählich abschmelzen lassen.

Tiefe Alpenthäler mit hohen, in die Schneeregion reichenden Uferbergen, wie z. B. der obere Theil des Haslithales im Berner Oberlande, bieten zur Zeit des Touristenschwarmes, wo das Niedergehen der Lauinen gewöhnlich vorüber ist, das Bild der Zerstörung. Aus den tiefen Einschnitten der Thalwände, von denen man von unten oft nicht ahnt, daß sie die Ausgänge aus bedeutender Höhe herabkommender Felsengassen sind, erstrecken sich oft in das Thal hinein Wälle ganz frisch aussehender Blöcke von überraschender Größe, die dennoch durch den überwältigenden Druck des weichen Schnee’s herabgeworfen, vielleicht erst oben losgebrochen worden sind. Selten ereignen sich solche Lauinenfälle in sehr besuchten Gegenden noch im Spätsommer, weil dann der Schnee bis zur ewigen Schneegrenze hinauf abgeschmolzen zu sein pflegt, dafern nicht ausnahmsweise zeitige Schneefälle und darauf folgende milde Witterung neuen Stoff dazu bieten. Um diese Zeit beschränkt sich das Niedergehen von Lauinen auf die unzugänglichen Heiligthümer der Hochalpen, aus denen dem Reisenden meist nur von fern in der vorher beschriebenen Weise Kunde wird. Wenn wir aber mit aufmerksamen und geübten Blicken die Alpenwelt durchwandern, namentlich zu der Zeit, wo durch das den Sommer über stattgehabte Abschmelzen die Schneegrenze sehr hoch liegt, so erkennen wir, daß auch die Lauine eine der mancherlei Formen ist, in welchen das Wasser unausgesetzt an den Umrissen der Hochgebirge ändert und mäkelt.

Aber neben diesem gewaltsamen Wirken haben die Lauinen auch noch eine mit dem Gedeihen des Lebens in nahem Zusammenhange stehende Bedeutung. Es ist kaum möglich, sich von den unermeßlichen Mengen Schnee’s eine richtige Vorstellung zu machen, welche alljährlich durch die Lauinen unter die Schneegrenze herabgefördert werden. Blieben diese Massen an den Stellen liegen, wo sie als Schnee niedergefallen sind, so würden sie kaum bis zum Spätsommer abschmelzen, an schattigen Hängen gar nicht dazu gelangen und so würde vielleicht die Schneegrenze – die wir als nicht blos von der Seehöhe abhängig bereits kennen gelernt haben – allmählich tiefer herabsinken und das Weidegebiet der Alpenmatten immer mehr beeinträchtigen. Durch den Lauinenfall werden regelmäßig alle Jahre eine Menge Alpenmatten von den Schneelasten befreit. Dieser Lauinenschnee wird nun in den tieferen Höhenstufen von den hier wirksameren Sonnenstrahlen und von Regengüssen schneller verzehrt und ihr Wasser kommt den Tiefländern zu Gute, während der ewige Schnee seinen Wassergehalt denselben vorenthält. Tschudi[1] hält daher die Lauinen trotz der von ihnen sonst angerichteten Verheerungen dennoch für eine vorwiegend nutzenbringende Alpenerscheinung.




Die Leipziger Gewandhausconcerte und ihre Entstehung.


Weit über die Grenzen Sachsens und Deutschlands hinaus ragt der Ruhm des Leipziger Gewandhausconcerts. Mögen in größeren Städten gewaltigere Orchester und zahlreichere Sängermassen in kolossaleren Räumen vor einem größeren und glänzenderen Publicum zusammenwirken, so werden diese Leistungen sich dennoch nur in seltenen Fällen mit dem messen können, was hier mit verhältnißmäßig wenigen, aber auserlesenen Kräften unter einer Führung geboten wird, die ihren Stolz darin sucht, dieses Institut auf dem hohen Standpunkte zu erhalten, auf den es durch seine Begründer und deren Nachfolger gehoben worden.

Kein Sänger und kein Virtuos, wäre er auch anderwärts noch so oft mit Beifall aufgetreten, wird seinen Ruf für dauernd begründet erachten, so lange derselbe nicht die Feuerprobe des Leipziger Gewandhausconcertes bestanden hat, und wenn ein Componist sein Werk hier zur Aufführung gebracht und damit vor der Leipziger Kritik Gnade gefunden hat, so braucht ihm an andern Orten deswegen nicht mehr bange zu sein.

Es ist interessant, ein Kunstinstitut, welches sich eine so unbestrittene Geltung und Anerkennung erworben, bis auf seine ersten Anfänge zurückzuverfolgen und seine allmähliche Entwickelung zu betrachten, was hier mit möglichster Kürze und Bündigkeit nach den zuverlässigsten, hierüber vorliegenden Nachrichten geschehen soll.

Schon im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts bildeten in Leipzig die Studirenden unter Direction „qualificirter Personen“ ein sogenanntes Collegium Musicum, welches Mittwoch Abends von acht bis zehn Uhr in der Wohnung des königlichen Hofchokoladier Lehmann seine Zusammenkünfte hielt. Auch kam damals ein sogenanntes großes Collegium Musicum vor, welches Freitags oder Sonnabends auf dem Ballhause in der Petersstraße gehalten wurde und dessen Stifter der Organist an der Neukirche, Georg Philipp Telemann, war, welcher später als Musikdirector in Hamburg angestellt ward.

Eine weit bedeutendere Anstalt aber wurde das sogenannte Große Concert, welches als der eigentliche Keim der musikalischen Bedeutung zu betrachten ist, welche Leipzig im Laufe der Zeit errungen und bewahrt hat.

Es war ein Verein von nicht mehr als sechzehn Personen sowohl adeligen als bürgerlichen Standes, welcher im März 1743 das Große Concert begründete. Jedes Vereinsmitglied sollte zur Erhaltung des Instituts jährlich zwanzig Thaler beitragen, so daß vierteljährlich ein Louisd’or zu entrichten war. Die Zahl der Musicirenden belief sich gleichfalls auf sechzehn „auserlesene“ Personen.

Das erste Local dieses Concerts war auf der Grimmaischen Gasse bei dem Bergrath Schwabe, ward aber nach kurzer Zeit in das Haus des Buchhändlers Gleditsch verlegt.

Schon damals traten auch fremde Künstler in diesem Concerte auf und an musikalischen Wunderkindern fehlte es ebenfalls nicht. Freilich waren letztere noch nicht so häufig wie später, denn wir finden es als eine große Merkwürdigkeit aufgezeichnet, daß am 16. September 1743 „in dem bei Herrn Gleditschen, dem Buchführer, mit Trompeten und Paukenschall abgehaltenen großen Concert ein Knabe von zwölf Jahren sich auf dem Clavicembalo mit einem Concert wohl hören ließ.“

Schon im October desselben Jahres wurde von diesem Verein durch ein bis auf dreiundzwanzig Musiker gebrachtes Orchester ein großes Concertexercitium auf dem Saale des Ranstädter Schießgrabens gehalten. Dieses Concert wurde von vielen vornehmen Personen besucht, unter andern von dem Grafen von Manteuffel und dem Grafen von Wackerbarth-Salmour, Oberhofmeister des Kurprinzen und selbst geschicktem Musikus und Componist.

In diesem Concerte ließen sich nach dem noch vorhandenen Programm hören: „Der königl. Flaut-Traversiste Mons. Knöcher; ferner Hr. Doles“, der nachmalige berühmte Cantor der Thomasschule – „ein Membrum dieses Concerts auf dem Clavicembalo, und drittens der Eisenachsche Hofbassiste Mons. Voigt, welcher nicht allein einen schönen tiefen Baß, sondern auch einen unvergleichlichen Alt in zwei Arien sang.“ Alle diese wurden mit Beifall angehört, insbesondere aber ward ein „Mons. Abel auf der Viol da Gamba in Spielung eines Trio und musikalischer Fantasie solo sehr admiriret.“ Auch mußte Letzterer Tags darauf sich vor den gerade in Leipzig anwesenden königlichen Majestäten hören lassen und hatte das Glück, der königlichen Capelle zugewiesen zu werden.

Zu dem ersten Jahrestage des Großen Concerts, welcher feierlich begangen ward, componirte der wackere Doles eine große Cantate mit Trompeten und Pauken, deren Hauptarie folgenden Text hatte:

„Das Steigen und Fallen der frohen Gesänge,
Die flüchtigen Läufer veränderter Gänge
Ermuntern und trösten den traurigen Geist.
Die Schwermuth verliert sich, die Freude zerreißt
Die widrige Fessel verdrießlicher Stunden,
Womit ihn die kränkenden Sorgen gebunden.“

  1. Tschudi, Thierleben der Alpenwelt S. 228.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_096.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)