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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Die Landgräfin harrte nun auf die Erscheinung ihres Gemahls, der ihr versprochen, ihr persönlich anzukündigen, daß der Dichter in Freiheit gesetzt sei; aber statt seiner trat nach einer Weile der Kammerdiener wieder ein und meldete Minette an, die gleich hinter ihm mit allen Zeichen der Verzweiflung in das Gemach stürzte.

„O, gnädigste Durchlaucht, welches Unglück!“ rief Minette aus, „der Herr Goethe ist fort, ist in der ganzen Stadt nicht zu finden. Im Merk’schen Hause wußten sie nichts von ihm, seit dem Morgen sei er verschwunden – Niemand hatte eine Ahnung, wo er geblieben sein könne. Ich bin gerannt und bin gelaufen, wie toll, nach allen Thoren, um zu hören, ob er die Stadt verlassen habe, aber nirgends war eine Sylbe Auskunft über ihn zu erhalten; in den Anlagen war er nicht, in den Wirthshäusern nicht – o, mein Gott, ich bin so erschöpft, daß ich umsinke, und nun ist Alles wieder so schlimm, wie es war!“

Und dabei brach das arme Mädchen in ein ganz entsetzliches Schluchzen aus.

„Er ist verschwunden, seit dem Morgen, sagst Du?“ fiel die Landgräfin ein.

„Seit dem Morgen hatten Merk’s nichts von ihm gesehen noch gehört!“

„Und an den Thoren ist er nicht als abgereist gemeldet?“

„Und nirgends, gar nirgends ist er – –“

„Minette,“ rief die Landgräfin aus, „welcher Gedanke kommt mir da! – Das wäre ja schrecklich! Sag’ mir, wer hat die Thüre zu meiner Grotte gesperrt, als ich sie verlassen hatte?“

„Der Vater; als der Wilhelm von den Soldaten fortgeführt war, da ist er in’s Haus gegangen und da wird er gesehen haben, wie ich die Thüren hatte offen stehen lassen, und wird sie zugeschlagen haben – ja, ich erinnere mich, ich habe es oben in meiner Kammer gehört, wo ich hinaufgestürzt war, um mich vor seinem Zorne zu schützen; daß er die Grottenthüre offen finden mußte, das fehlte just noch, um ihn außer sich zu bringen! Dann ging er fort, in’s Wirthshaus!“

„Das ist eine schöne Geschichte!“ fuhr die Landgräfin fort. „Dein Vater hat die Thüren geschlossen, weil er weiß, daß ich einen Hauptschlüssel habe, mit dem ich die Grotte verlassen kann, und daß ich die Thüren immer geschlossen haben will, auch wenn ich in meiner kleinen Klause bin. Du hattest heute die Thüre hinter mir offen gelassen, Du Unglückskind, und die Folge davon war, daß der junge Goethe sich in die Grotte verirrte; ich verließ sie, indem ich ihm befahl, eine Weile zurückzubleiben; als ich heraustrat, stand die Thüre noch offen, aber Niemand war da, dem ich befehlen konnte, sie offen zu lassen, damit der junge Mann hinaus könne. Wahrscheinlich waret Ihr Alle gerade in dem Augenblicke mit Eurer stürmischen Familienscene in den Anlagen beschäftigt. So verließ ich Euer Haus, nicht anders denkend, als daß der junge Mann nach wenigen Augenblicken es eben so machen würde. Nun ist er aber seit dem Morgen nicht wieder gesehen worden – es ist also klar, daß er so lange in der Grotte geblieben ist und die Zeit verträumt hat, bis Dein Vater gekommen, ist und ihm den Ausgang versperrt hat. Der arme Mensch! Seit diesem Morgen gefangen! Gehen wir sofort hin, um ihm seinen Kerker zu öffnen. Folg’ mir, Minette!“

Die Landgräfin nahm rasch ihren Shawl, der noch neben ihr auf einem Tabouret lag, hüllte sich darein, bevor noch Minette Zeit gefunden, ihr zu helfen, und verließ dann auf demselben Wege, den sie vor kaum einer Viertelstunde gekommen war, das Schloß wieder, um sich eilig in den Park und in das Haus des Hofgärtners zu begeben.

Während die Fürstin leichten und elastischen Schrittes dahin eilt, wollen wir uns nach dem unglücklichen jungen Soldaten umsehen. –

„Gnädigster Herr,“ meldete der dienstthuende Flügeladjutant, als der Landgraf auf der Rückkehr von seiner Spazierfahrt in das Vorzimmer zu seinen Appartements trat. „Der Präsident Moser warten im Audienzsaal auf Ew. Durchlaucht; und hier ist auch der Rekrut, den heute der Hofgärtner Allgeyer eingestellt hat und den Durchlaucht vorzuführen befahlen.“

Er wies dabei auf den Gärtnergehülfen, der als ehemaliger Soldat in der stracksten militairischen Haltung dastand, aber innerlich nicht wenig von Sorge erfüllt war, zu welchem Ende er hierher beschieden und wozu der Landgraf ihn vor sein gestrenges Antlitz berufen.

„Der Moser ist da?“ entgegnete der Landgraf weiterschreitend, „dann haben wir keine Zeit für den Rekruten!“ Da aber zugleich sein Auge den Gärtnergehülfen streifte, hielt er den Schritt an und sagte:

„Hübscher Bursch das! Schad’ um ihn! Gute Haltung! Könnte Flügelmann im zweiten Glied werden. Hält sich, als wüßte er mit dem Gewehre umzugehen!“

„Zu Befehl, ja, Durchlaucht,“ fiel der Gärtnergehülfe hier ein, als ob in diesen Worten des Landgrafen eine Frage an ihn enthalten.

„Versteht Er wohl etwas vom Exerciren?“

„Zu Befehl, Durchlaucht!“

„Wie viel Schritt macht der Grenadier in der Minute beim Parademarsch?“

„Fünfundsechszig, zu Befehl.“

„Und Tempos beim Präsentiren?“

„Zu Befehl, fünf.“

„Sieh, sieh! Das ist sehr löblich von Ihm, daß Er sich solide Kenntnisse in allen Fächern angeeignet hat. Man sollte glauben, er müßte gern beim Militair bleiben! Gefällt Ihm die Trommel nicht besser, als der Apollo’s Leierkasten?“

„Die Trommel gefällt mir schon, gnädigster Herr, doch nicht das Hinterdreinmarschiren!“

Der Landgraf lachte.

„Da schlägt ihn der Poet in den Nacken!“ sagte er. „Geht lieber lustwandeln, müßig! Nun, ’s ist sein Metier! Sag’ Er mal, hat Er heute schon gedichtet? Reime geschmiedet?“

Der Rekrut antwortete nicht im ersten Augenblick auf diese überraschende Frage; dann aber fiel ihm das Gespräch von diesem Morgen mit dem Fremden ein und etwas erröthend versetzte er rasch:

„Zu Befehl, Durchlaucht.“

„Was hat Er zusammengereimt? – Sag’ Er’s ’mal her!“

„Auf: dunkelt, funkelt!“

„Ist das Alles?“

„Zu Befehl, Durchlaucht.“

„Es ist wenig genug, wenn das Sein ganzes Tagewerk ist. Unsereins hat’s schlimmer! Hör’ Er, wenn Er ’mal an Seinem, freilich nicht gar sauern Geschäft die Lust verliert und denkt auf einen guten praktischen Lebensberuf, der ehrenvoll ist und seinen Mann nährt, so laß Er sich bei mir melden; es soll immer ein Platz in meiner Leibcompagnie für Ihn da sein. Aber zwingen will ich Ihn nicht dazu. Versuch Er’s immerhin erst, ob Ihm die Poeterei Rosen bringt. Unterdeß leb’ Er wohl – bin pressirt – Er ist entlassen und frei – kann gehen und Reime machen, wo Er will – der Landgräfin dankt Er’s – Adieu!“

Der Landgraf nickte Wilhelm zu, schritt an ihm vorüber und war hinter der nächsten Thür verschwunden.

Wilhelm war begreiflicher Weise außer sich vor freudigem Erstaunen über diese Wendung, welche das Gespräch genommen. Er glaubte, seinen Sinnen nicht trauen zu dürfen, bis der Flügeladjutant ihm sagte:

„Ich gratulire Ihm! Er hat’s doch verstanden? Der gnädigste Herr gibt ihn frei. Komm’ Er, ich will’s dem Corporal sagen, der Ihn hergebracht hat!“

Der Gärtnergehülfe fühlte seine Wimper naß werden aus Freude und Dankbarkeit für den Landgrafen, dem er gerührt zu Füßen gestürzt wäre, wenn nicht längst schon der Fürst das Vorzimmer verlassen gehabt hätte. Halb wie im Rausch folgte nun Wilhelm dem Adjutanten, der mit ihm die Stiegen hinunterschritt und dem harrenden Corporal die Entschließung des gnädigsten Herrn ankündigte. Wilhelm hatte nur den Unterofficier noch zu begleiten, um seine Montur wieder abzulegen und seine Kleider zurückzunehmen. Das war schnell bewerkstelligt und keine Viertelstunde vergangen, als der junge Mann schon in seiner Gärtnerjacke dem Eingange zum Parke zustürmte, um Minette sein Glück zu verkünden – seine eifersüchtige Wuth hatte er im Freudenrausche bereits ganz vergessen; Minette hatte ihm ja auch während der Scene am Morgen, welche zu einer so tragischen Katastrophe für ihn geführt, oft genug betheuert, daß sie ganz unschuldig sei, und während seiner Gefangenschaft heute hatte Wilhelm hinreichend Muße gehabt, sich dieser Betheuerungen zu erinnern und darüber mit Ruhe nachzudenken.

Als er am Eingange des Parkes ankam, sah er zu seiner

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_114.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)