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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

mit beiden Händen und schluchzte wie ein Verzweifelter. Wohl sprang er nach einiger Zeit auf und schritt hastig durch das Zimmer, nach Fassung ringend, die er doch nicht gewinnen konnte; endlich machte die gequälte Natur sich selbst Luft: ein Thränenstrom schoß aus seinen Augen, und er rief, vom tiefsten Schmerz eines plötzlich zerrissenen Herzens zur Wehmuth, welche lindernden Balsam in die blutenden Wunden träufelt, übergehend, zuweilen: „O, mein armer, unglücklicher Vater! Welche Qualen hast Du ausstehen müssen! Ja, es ist meine heiligste Pflicht, Deine Schuld zu sühnen, was an mir ist, wie Du sie ja gesühnt hast, was an Dir war!“

Und er weinte lange, bis ihm das Herz erleichtert war. Dann griff er nach einem zusammengeschlagenen beschmutzten Papiere und einem Siegelringe, welche mit in dem Couvert gelegen, um beide einer nähern Betrachtung zu unterziehen. Das erstere zeigte sich, als er es entfaltet, als ein alter Reisepaß mit einer nicht geringen Anzahl Visa’s. Er las ihn genau durch. Unwillkürlich entschlüpften seinem Munde dabei die Worte: „Georg Theodoro aus Vilagos im Arader Comitat in Ungarn, zweiunddreißig Jahre alt, und der Paß ist 1800 ausgestellt. Und wann ist’s geschehen?“ Er sah in den Brief. „In der Osternacht 1802. Da ist der Mann vierunddreißig Jahre alt gewesen. So sind’s denn heute gerade zwanzig Jahre.“

Er versank wieder in tiefes Sinnen, aus welchem er nach wenigen Minuten mit den Worten auffuhr:

„Es wird nicht leicht sein, sie aufzufinden, aber sie müssen gefunden werden, koste es, was es wolle!“

Er griff nach dem massiven Goldringe und betrachtete das Wappen, das in den Carneol eingeschnitten war. „Ein Arm mit einem reichen Armbande, also ein weiblicher Arm! Unverkennbar ein weiblicher! Und ein gekröntes Schwert emporhaltend. Ein offener gekrönter Helm; zwei Schildhalter. Das Alles deutet auf eine aristokratische Familie. Ob der Ring mir nützen wird? – Es muß Alles versucht werden!“ Rasch warf er Papiere und Ring in einen Kasten seines Pultes, verschloß dasselbe, kleidete sich zum Ausgehen und verließ das Haus, ohne in der Familie vorzusprechen.

Nach zehn Minuten trat er in die elegante Wohnung des Advocaten Dr. jur. Liebheld. Der Diener öffnete ihm die des Wohnzimmers mit dem Bemerken, daß nur die Frau Doctorin zu Hause sei. Eine junge, sehr interessante Frau erhob sich vom Sitze vor einem Flügel. Sie hatte gespielt und gesungen, vielleicht auch den beiden allerliebsten Kindern, einem Knaben von ungefähr sechs und einem braunlockigen Mädchen von vier Jahren, Unterricht in der Musik gegeben. In Gestalt und Wesen dieses Weibes mit dunkelblondem Haar und lichtblauen süßen Augen und dieser Kinder lag ein unbeschreiblicher Liebreiz; sie sahen aus wie verkörperte deutsche Musik, die Frau etwa wie eine Beethoven’sche Symphonie, die Kinder wie entsprechende Capriccio’s. Es bedurfte keineswegs der Instrumente und Notenblätter umher, um zu wissen, daß Musik das Lebensbedürfniß dieser schönen Frau war.

Sie erhob sich freundlich lächelnd und dankte Kahlert’s Gruß mit Anmuth; die Kinder eilten ihm entgegen und boten ihm die Hand. Er war kein Fremdling im Hause.

„Sie sehen leidend aus, Herr Kahlert!“ sagte sie sogleich theilnehmend, als sie die Blässe seiner gefurchten Gesichtszüge wahrgenommen hatte. „Fühlen Sie sich unwohl?“

„Ich habe in dieser Nacht einen schmerzlichen Verlust erlitten. Mein Vater ist plötzlich gestorben.“

„Ah! das erklärt den Ausdruck Ihrer Züge. Doch der Verstorbene war längst leidend; er mied zuletzt menschliche Gesellschaft.“

„Gewiß ist der Tod besser für ihn als, das Leben. Und dennoch –“

„Ich verstehe Sie. Das Herz behauptet sein heiliges Recht auf den Schmerz. Merkwürdig ist, daß auch wir heute schmerzlich an den Tod des Vaters meines Mannes erinnert worden sind. Auch er fand in der Osternacht den Tod und – Sie wissen – gewaltsam im Wasser.“

Kahlert zuckte zusammen und ward noch bleicher.

„Es sind heute acht Jahre,“ fuhr die junge Frau fort. „Sie waren damals in Hamburg in Condition.“

„In Wien. In Hamburg war ich in den letzten Jahren, Ich bin seit drei Jahren wieder im Vaterhause,“

„Das eben wollte ich andeuten. Sie sind eine Reihe von Jahren abwesend gewesen und haben schwerlich über die Todesart meines Schwiegervaters etwas erfahren.“

„Doch! Man hat es mir geschrieben, freilich die nähern Umstände nicht. Die hab’ ich auch später nicht erfahren, weder von Liebheld, noch von jemand Anderem.“

„Mein Mann spricht nie davon; er mag auch nicht, daß ich davon rede, wenigstens duldet er es nicht in seinem Beisein. Und doch hat uns jene Schreckensnacht zusammengeführt, und ohne sie wären wir wohl schwerlich ein Ehepaar geworden.“

„Ich habe geglaubt, die beiderseitige Vorliebe für die Musik habe Sie zusammengeführt.“

„Diese Vorliebe wurde nachher die Fessel; der Tod des alten Herrn in der Donau aber war die Veranlassung unserer Bekanntschaft, und wenn ich nicht auf so eigenthümliche Weise in diese Katastrophe verwickelt worden wäre, so würde mich mein Großvater bald wieder von hier fortgeführt haben und ich hätte Liebheld schwerlich je kennen gelernt. Deshalb verleben wir jeden Ostermorgen in ernster Stimmung. Mein Mann ist in den Dom gegangen, um ein Gebet für das Seelenheil seines Vaters zu sprechen, und ich habe eben ein Stabat mater gesungen.“

„Darf ich erfahren, wie Sie in die geheimnißvolle Begebenheit jener Nacht verwebt waren und wie daraus die Bekanntschaft mit Ihrem Gatten entsprang?“

„Da wir allein sind, will ich Ihnen die Geschichte wohl erzählen. Freilich Aufschlüsse kann ich Ihnen nicht geben. Der Tod hat seinen bleiernen Schleier für immer über die dunkle That geworfen, deren unwillkürlicher und ungeahnter Zeuge ich sein mußte.

„Ich war mit meinem Großvater hierhergekommen, um eine Erbschaft, die uns zugefallen war, anzutreten.“

„Ich habe Sie noch nie von Ihrem Vater oder überhaupt von Ihren Eltern sprechen hören,“ unterbrach der Zuhörer die Erzählerin.

„Weil ich früh verwaist bin. Die Mutter, eben die Tochter des Mannes, der mich mit unbeschreiblicher Liebe erzogen hat und dem ich meine Bildung verdanke, verlor das Leben, indem sie es mir gab. Ihr Vater hatte sie schier abgöttisch geliebt; sie war seine einzige Tochter und er hatte nur mit Widerstreben in ihre Verehelichung gewilligt; denn der Gedanke, sie nicht mehr allein zu besitzen, war ihm anfangs unerträglich; auch behauptete er stets, er habe die bestimmte Ahnung gehabt, daß diese Verbindung sie früh aus dem Leben reißen werde. Seiner Versicherung nach muß sie ein herrliches Wesen gewesen sein. Um so erbitterter wurde der Großvater auf den Vater, als dieser schon ein halbes Jahr nach dem Verluste der Mutter ein Mädchen geringen Standes und slowakischer Abkunft heirathete, die noch dazu erst ein Verhältniß mit einem gemeinen Bergmanne gehabt hatte. Das war für den adelstolzen deutschen Edelmann zu viel und ein unheilbarer Bruch wäre erfolgt, wenn nicht der alte Herr durch sein Amt und meine winzige Person an Kremnitz gefesselt worden wäre.“

„Ich höre das erste Wort davon, daß Sie in Ungarn geboren sind; ich habe Sie bislang für eine Deutsche gehalten.“

„Das bin ich auch der Abstammung von Vater und Mutter nach, und ich bin kaum einige Jahre alt gewesen, als der Vater, einem dunkeln Schicksale erliegend, in einem Goldschachte den Tod fand, und der Großvater sein Amt niederlegte und mit mir nach Wien zog. Ich habe Ungarn nicht wieder gesehen; der alte Herr hatte eine unbezwingliche Scheu vor dem Lande; er mochte eben böse Schicksale dort erlebt haben, und wenn ich an das Land meiner Geburt denke, und wunderbar reizende Bilder in meiner Seele aufsteigen, so weiß ich nicht, ob sie Schöpfungen meiner Phantasie oder frühster Erinnerung oder eine Mischung beider sind. Eben ein solches Bild dämmert von der Gestalt meines Vaters darin als der eines ungewöhnlich großen Mannes, der, wenn ich allein mit ihm war’ seufzend zu mir sagte: Aurelie, lebte Deine Mutter noch! – Doch ich bin vom eigentlichen Gegenstande meiner Erzählung abgekommen. Eine Cousine von mir, Nichte des Großvaters, hier an einen Staatsbeamten verheirathet, war mit Hinterlassung eines bedeutenden Vermögens ohne Leibeserben gestorben und die Auseinandersetzung mit den übrigen Erben machte einen mehrmonatlichen Aufenthalt in hiesiger Stadt für uns nöthig. Ohnedies schien der Wechsel des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_131.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)