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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

seine eignen Kinder halbwegs zu erziehen, Georg Müller, selbst für sich ohne Mittel, erzog und bildete zehn Jahre lang stets über hundert Waisen in seinen vier theuren Häusern in dem theuern London, ohne jemals um Unterstützung zu bitten. Letztere Bedingung brach er auch dann nie, wenn kein Dreier in den vier Häusern für das nächste Abendbrod der Heerde Kinder übrig war, wobei sie doch nie hungrig zu Bett gingen. Einige Auszüge aus seinem Naiven Berichte:

„Am 10. August 1844. In der größten Noth, kein Penny mehr zur Hand. Da erhielt ich eine Fünfpfundnote von einem Bruder in Hackney.“

„16. August 1845. Unsere Armuth ist außerordentlich groß. Es ist zehn Uhr und kein Penny für Mittagbrod. Ich dachte an einige Artikel, die ich versetzen oder verkaufen könnte für die Waisen, als einer der Arbeiter (Lehrer) mir ein Pfund gab. Aus den Büchsen der Häuser ergaben sich 1 Schilling 6 Pence, für gestrickte Sachen wurden zwei Schillinge 6 Pence bezahlt, und A. gab 2 Schillinge.“[1]

Solche Tagebuchs-Notizen finden wir in unzähliger Masse, und er machte nie Schulden, er bat nie um Beiträge und die Kinder gingen nie hungrig zu Bett.

Im Jahre 1845 dachte Georg Müller an Erbauung eines eigenen Waisenhauses für etwa 300 Kinder. „Ich dachte, das würde etwa 10,000 Pfund kosten, und am 4. November fing ich an, den Herrn um Mittel zu bitten. Am 10. December stellten sich von unbekannter Hand 1000 Pfund ein. Als dieses Geld kam, war ich so ruhig, als hätt’ ich eben einen Schilling erhalten, denn mein Herz sah sich nach Erhörungen um. So überraschte mich diese Schenkung nicht im Geringsten. Andere Gaben folgten, eine zweite von 1000 Pfund am 30. December, und da ich den Herrn nun gebeten, er möge mir vorangehen, folgte ich ihm, um eine Baustelle zu suchen.“[2]

Und nun denke man sich dieses seltsame Bild mitten in diesem Jahrhundert, mitten in diesem modernen England! Ein großer, eckiger, schwerfälliger Deutscher in schäbigem Schwarz durch die von Millionen Menschen und Tausenden von Fuhrwerken wimmelnde Stadt wandelnd mit der Vorstellung, daß Gott der Herr ihn persönlich zu einer Baustelle führe, wie er sie findet und sein Waisen-Asyl, seine Franke’schen Stiftungen richtig aufbaut! Und da steht es freudig durchwimmelt von eintausend gesunden, frischen, lachenden, rührigen, spielenden, lernenden und arbeitenden Kindern, die keine Noth, keinen grimmigen Waisenvater, wie sie Dickens so wahr und furchtbar schildert (in Oliver Twist), keinen Hunger, keinen Bakel, sondern nur Liebe und Freude und freie Arbeit kennen und in dem eckigen, gravitätischen Georg Vater und Mutter lieben und sich oft an ihn hängen, wie rothe, lachende, erste Herzkirschen an das Stück Holz, in welcher Form die Obstweiber gern die Erstlinge der, Kirschenernte verkaufen. Ist das nicht ein größeres Wunder, als Aladdin’s Palast? Mindestens ein größeres, als das grandiose Parlamentsgebäude an der Themse, das in allen Theilen zu groß und nur für das Unterhaus zu klein, zu dunkel und zu stickig und zugig zugleich ist, Millionen kostet und noch lange nicht fertig ist und jetzt an den Zinnen-Kanten mit einigen Fudern Gold beklebt wird.

Wir können dem deutschen Waisenvater englischer Kinder nicht auf Schritt und Tritt folgen, wie er hinter dem Herrn herwandelnd die Baustelle findet, das Asyl aufbaut und eben vergrößert. Nur noch einige Notizen.

Er fand die Stelle nahe bei Bristol in Aßley Down, einer der schönsten Vorstädte dieser rührigen, englischen Stadt, welche den besten englischen Tabak (Bristol Birds-Eye) fabricirt. Der erste Bau kostete 15,000 Pfund, also über 100,000 Thaler, die sich alle ungebeten einstellten. Er fing im Juli 1847 an und führte seine Kinder im Juni 1849 aus der rauchigen Wilsonstreet Londons in ihre sonnige, neue Heimath, ohne daß Jemand davon besonders Notiz nahm, während sonst fast alle wohlthätigen Institutionen vorher ausgeschrieen werden, als hätte die Henne das Ei schon gelegt, damit Geld gebettelt werden könne, ehe sie an die Machtthat denken. In einem großen Wohlthätigkeitsinstitute Londons fehlten neulich gleich 15,000 Pfund auf einmal; andere wurden entdeckt, die lange schon für Hunderte von armen Kindern gebettelt hatten und hernach gar kein einziges Kind aufweisen konnten.

Darüber ließen sich haarsträubende Thatsachen bändeweise zusammenstellen, aber ihr guten Deutschen drüben denkt immer, man wolle England damit schlecht machen und Euch den lieben einzigen „Anhaltepunkt“ für Eure Hoffnungen unter dem schwachen Arme wegschlagen was, abgesehen von der Wahrheit der Thatsachen, sehr gut wäre, da Ihr wirklich ohne englische Anhaltskrücke vortrefflich stehen und gehen könnt. Und wer’s noch nicht kann, ist ein Hypochonder und muß mit einer guten Parforcecur auf die Beine gebracht werden, wie Jener, der sich einbildete, er habe Beine von Glas, so daß er nicht eher probirte, selbst zu gehen, als bis man ihm das Bett unter den gläsernen Füßen tatsächlich wegbrannte. Dann aber konnte er auch plötzlich laufen, wie ’n Faßbinder.

Der Herr, welcher vor Georg Müller herschritt und ihm das „Wunder des Jahrhunderts“, wie es die Engländer nennen, aufbaute, war doch am Ende nur, rationalistisch und physiologisch genommen, eine ihm liebe und den Engländern imponirende Form für seine eigene deutsche Energie und Ehrlichkeit, sein schlichtes, fühlendes Herz und sein höchstes Erbarmen mit dem tiefsten Elend um ihn her. Er wandelte tapfer auf eigenen Füßen mit Glauben, Liebe, Hingebung, Leidenschaft, Ausdauer für sein edles Werk.

So ward er der Fels, an den sich die Engländer lehnten, wie überhaupt Engländer bald sich in die unabweisbare Nothwendigkeit werden fügen müssen, sich an deutsche Cultur, Ehrlichkeit, Sitte und Energie zu halten, um aus ihrem in der Ferne noch glänzenden Jammer heraus zu kommen, wie sich jetzt schon alle besseren, nobleren Elemente Englands, mit der Königsfamilie als Muster an der Spitze, aus ihrer Herrlichkeit in deutsche Sprache, Literatur, Sitte und Lebensweise flüchten. – Sie nähren sich von deutschem Marke, während einige Scribenten im Mutterlande sich einbilden, sie müßten auf alte, abgelegte Sachen Englands warten, ehe sie anständig auftreten könnten. Auch wir, so lange wir in England leben, müssen uns immer von deutschem Marke nähren, wenn wir nicht geistig verhungern wollen, so daß G. Kinkel, der seinen „Nimrod“ in England dichtete, die Sache mit den Worten trifft:

„Was wir im fremden Lande schaffen,
Es ward von Deinem Mark genährt,
Du schmiedest unsres Sieges Waffen
Auf Deinem ewig wachen Heerd.
Uns stärkt zur Abendfeierstunde
Des deutschen Freundes tiefes Wort,
Und hell aus unsrer Kinder Munde
Klingt deutsches Lied uns fort und fort.“

Und nun wieder zu unserem Ritter Georg. Etwa ein Jahr nach Vollendung des ersten Baues fing er an, Flügel zu bauen, um 1000 Kindern Obdach, Erziehung und Schule zu geben. Diese fing er mit Schillingen an. Anfangs 1856 hatte er über 23,000 Pfund verbaut und baar bezahlt. Vogel und Flügel sind jetzt schuldenfrei vollendet und von den 6000 Kindern Englands, die durchschnittlich stets in Gefängnissen leben, finden 1000 in Georg Müller ihren Vater, ihre Mutter, ihre Freiheit, ihre Tugend, ihre Zukunft wieder.

Müller hat im Ganzen für sein Werk 84,441 Pfund 6 Schillinge 3 1/4 Penny erhalten, ohne jemals um eine Gabe zu bitten. Im Uebrigen borgt und schenkt nicht so leicht ein anständiger Engländer einem Armen ein Stück Kupfer, während er allerdings leicht dahin zu bringen ist, Hunderte und Tausende für ostensible Zwecke mit hohen und seinem Namen in den Zeitungen zu zeichnen. Müller trug nie ein Geschenk mit Namen ein und bat nie um Beiträge. Aber da steht sein Werk, das „Wunder des Jahrhunderts!“ Welche Kraft, welche Siegesgewalt in diesem einfachen Helden! Da steht’s! Seht’ mal hinein! Kein Entrée, keine Bettelei, keine Büchsen, wie sonst in allen englischen Wohlthätigkeitsanstalten.

  1. Er wirthschaftete stets ökonomisch und ehrlich. Die Kinder arbeiteten und trugen bald bedeutend zur Selbsterhaltung des Instituts bei, wie wir aus unzähligen Tagebuchs-Notizen ersehen. Das erklärt auch vieles anscheinend Wunderbare.
  2. Alles dies hat in England, wie gesagt, nichts Wunderbares. Schenkungen, Beiträge und Vermächtnisse an wohlthätige Institute bis zu Tausenden von Pfunden kommen häufig vor. So oft Müller’s bald weit und breit bekanntes Unternehmen in Noth war, fanden sich denn auch immer bald größere, bald kleinere Beiträge. Er bat nie darum, aber durch seine Mitarbeiter wurden, wenn die Noth am größten, immer Mittheilungen gemacht, durch welche Herzen und Geld gerührt wurden.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_137.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)