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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 13. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Das Schachtgespenst.
Von Ludwig Storch.
(Schluß.)


VIII.
Die Schwestern.

Am andern Morgen saß die Familie Liebheld wieder erwartungsvoll zusammen; diesmal aber war es eine Jungfrau, deren Eintritt man mit Spannung entgegensah. Es war ein Bote an Caroline von Schönebeck mit dem Auftrage abgeschickt worden, sie unter jeder Bedingung mitzubringen. Und so erschien sie denn nach einiger Zeit mit schüchterner Neugierde in einfachem, fast ärmlichem Anzuge, ein reizendes Heckenröschen. Ihre Befangenheit in Mitte der ihr fremden Personen, deren Augen mit dem lebhaftesten Ausdrucke auf sie gerichtet waren, verwandelte Frau Liebheld schnell in die süßeste Verwirrung, indem sie, dem Drange ihres Herzens folgend, auf die holde Erscheinung zueilte, sie in die Arme schloß, an die Brust preßte und ihr Mund und Stirn mit Küssen bedeckte. Dazwischen rief die edle Frau bis zu Thränen gerührt:

„Meine theure Schwester! Meine theure, geliebte Schwester! Sei gesegnet, Du herziges Kind! Wie hab’ ich mich nach Dir gesehnt! Ich bin ja Deine Schwester Aurelie. Wir haben ja keinen Blutsverwandten weiter, wir sind die einzigen Geschwister.“

Lina schrie laut auf vor froher Ueberraschung, und nun gegenseitiges Herzen und Küssen. Dann führte Aurelie der Schwester ihren Mann, ihre Kinder, Lieschen und Eduard Kahlert zu und sagte:

„Sieh, lieb’ Schwesterchen, wie Du uns hier beisammen findest, bilden wir eine Familie. Ein ungewöhnliches Schicksal hat unsere Herzen miteinander verbunden. Lieschen ist mir Schwester, Tochter, Freundin, und sie wird auch Dir Schwester sein. Denn wir lassen Dich nicht wieder, Du bist ja ein so holdes Kind. Du gehörst zu uns und bleibst bei uns. Du gehst mit uns nach Deutschland.“

Lina brach in Freudenthränen aus. Als sie erst einige Worte halb geflüstert, halb gestammelt, wurde sie allmählich lauter und der Wonnestrahl ihres Auges, die Verklärung ihrer Züge fand in den Ergüssen ihrer Lippen einen vernehmbaren Ausdruck. Die Zuhörer fanden, daß sie dieselbe wohltönende und musikalische Stimme habe, wie Aurelie, und auf Befragen erklärte sie, daß Singen und Musik ihre größte Lust sei. Alle klatschten vor Freude in die Hände.

„Sieh, daß Du zu uns gehörst! Der Vater hat seinen musikalischen Sinn auch auf Dich vererbt. Du trittst in unser Concert.“

Man verglich die zusammenstehenden Schwestern, und Eduard war dabei am thätigsten und fand die Familienähnlichkeit in Zügen, Blicken, Bewegungen. Lina hatte dasselbe süße, unschuldige Auge, wie ihre Schwester, die Form der einzelnen Gesichtstheile war dieselbe, nur statt der reizenden Schalkhaftigkeit, welche aus Aureliens Zügen lachte, war über die Lina’s ein Hauch poetischer Schwermuth gebreitet. Eduard bat Lina, etwas zu singen, alle Andern unterstützten ihn, und sie sang ohne Befangenheit ein kleines schönes ungarisches Volkslied mit hinreißender Naivetät und Fertigkeit. Die Frauen umarmten sie jubelnd, Eduard küßte ihr, berauscht von Entzücken, die Hand, die Kinder umklammerten ihre Kniee und wurden nicht müde, sie zu liebkosen.

Die Veränderung, welche in einer Stunde, die Allen wie eine Minute verflossen, mit Lina vorgegangen war, hätte ihre Kremnitzer Bekannten in Erstaunen setzen müssen. Sie war verwandelt. Die Weihe eines höheren, seligen Lebens, das sie bis jetzt nur geahnt, nach dem sie sich unablässig gesehnt, zu dem sie aber geschaffen und berufen war, war ihr plötzlich, wie vom Himmel gefallen, zu Theil geworden. Die Hand eines Engels war über ihre holde, jungfräuliche Gestalt gestreift und hatte ihrem Auge reinern Glanz, ihrer Gestalt höhere Würde, ihren Zügen Erhabenheit, ihrem Wesen Poesie gegeben. Und nun hatte sie wiederum ein anderes Menschenkind im Familienkreise auf ähnliche Weise verwandelt, Eduard Kahlert. Auch er war nicht mehr der von Schwermuth niedergedrückte, zaghafte, schweigsame Mann, dem die Menschenwelt und ihr Thun gleichgültig, ja verächtlich erschien; er hatte sich emporgerichtet, sein Auge leuchtete vom Glanz, der in seiner Seele entglommen war, er sprach nur einzelne Worte, aber es waren die aufjauchzenden Stimmen erweckter Geister, die sich – früher unerkannt – in ihm kundgaben. Aurelie und ihr Gatte bemerkten mit hoher Freude zugleich diese Verwandlung des Freundes und verständigten sich durch Blicke darüber.

„Alles wird gut!“ jubelte Aurelie, faßte Eduards Arm und zog ihn zu Lina. „Seht Euch an, Ihr beiden theuern Menschen! Recht tief in die Augen! Noch tiefer in die Seelen! Erkennt Ihr Euch? Ja, Ihr habt Euch schon erkannt; Euer heiliges, keusches Erröthen verräth es. Nun denn, so ist auch schon die Ahnung in Euch aufgeblüht, daß Ihr für einander bestimmt seid. So wißt es denn, daß Ihr den schönen Familienkreis mit Hand und Herz schließen sollt und daß Ihr damit unsere höchsten Wünsche erfüllt.“

Das zarte Herzensgeheimniß, das sich eben erst gebildet, war

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_169.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)