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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Land und Leute.
Nr. 10. Der Dollart.

Wenn Du, geneigter Leser, mit mir hinauswanderst von meiner Vaterstadt Emden zu der eine halbe Stunde entfernten Schleuße, so erblickst Du vor Dir eine große Wasserfläche, der vor ungefähr sechs Jahrhunderten die reichste und bevölkertste Gegend Ostfrieslands weichen mußte. Fünfzig blühende Dörfer und die Stadt Torum, eine schöne, volkreiche Stadt mit einem berühmten Markt und einer Münze, mit reichen Einwohnern, in deren Mitte allein acht Goldschmiede ihr reichliches Auskommen fanden, lagen auf diesem gottgesegneten Strich Landes. Allenthalben sah das Auge fette Weiden und Wiesen, bedeckt mit dem köstlichsten Vieh. Und in der Stadt und in den Dörfern lebten viele tausend Menschen. Aber das unersättliche Meer hat nach und nach die Stadt, die Dörfer und die Menschen verschlungen. Wo früher der Landmann frohen Muthes den Pflug lenkte oder der Schnitter das goldne Korn mähte, wo muntere Thiere sich auf der Weide tummelten, wo die gefiederten Sänger ihre Loblieder erschallen ließen, – da siehst Du jetzt nur Wasser und wieder Wasser, den gehenden oder kommenden Schiffer, den windschnell dahinschießenden Buttfischer oder die einsame Möve. In weiter Ferne siehst Du vor Dir links ostfriesisches, rechts holländisches Land.

Trittst Du aber zur Zeit der Ebbe an den Dollart – denn so heißt der Meerbusen um seiner tollen Art willen, besonders im Herbst und Frühling – so ist das Bild ein noch trostloseres. Denke Dir eine weit ausgedehnte, braungelbe, schlüpfrige Fläche, hier mehr, dort weniger über dem Wasser erhaben, welches zu dieser Zeit auch noch in den Rinnen und Löchern zurückbleibt; eine durch die ruhelose Wirkung der Wellen gefurchte und runzelige Fläche, die weder lieblich, noch wild, noch erhaben erscheint, sondern deren Anblick Dich mit Langeweile erfüllt – so hast Du ein getreues Bild des äußern Dollartbodens.

Der ostfriesische Schlammfischer.

Verschiedene Ursachen haben dazu mitgewirkt, daß das Meer Herr wurde über das Land: die Lage und Art des Landstriches, die Uneinigkeit der Bewohner und die Macht des ungestümen Elements. Die Küste bestand aus einem hohen und kräftigen Kleiboden, konnte daher dem Meere die Spitze bieten; aber das Binnenland war so niedrig und moorig, daß der Feind, nachdem er einmal eingedrungen war, hier die größten Verheerungen anrichten konnte. Emmius, der Vater der friesischen Geschichte, sagt:

„Der Boden in unmittelbarer Nähe der Ems ist dicht und zähe, weiter im Lande hinein aber niedrig und moorig, er bewegt sich unter den Füßen, wie wenn er zittert; er ist daher nicht stark genug, gewaltigen Fluthen Widerstand zu leisten. In solchen Fällen wird hier und dort der Boden mit Häusern und Wiesen in größer oder kleinerer Ausdehnung vom Wasser emporgehoben. Dies mag wunderbar erscheinen und Fremden unglaublich, wir selbst würden daran zweifeln, wenn nicht der Augenschein uns gezeigt hätte, daß bei starken Wasserfluthen ganze Strecken Landes, wie Schiffe, mit Vieh, Dörfern, Weilern und Kirchen dahin trieben.“

Wie sehr nun auch bei diesem Zustande ein sorgfältiges und einmüthiges Bewachen der Schutzwehren des Landes, der Deiche, noth that, so herrschte doch unter den Einwohnern und besonders unter den größern Grundbesitzern und Häuptern des Landes zu viel Eifersucht, Feindschaft und Uneinigkeit, als daß sie für den Unterhalt der Deiche und, wenn diese beschädigt waren, für die nothwendigen Arbeiten gesorgt hätten. Oftmals fehlte es auch an der nöthigen öffentlichen Gewalt, sie zu ihrer Pflicht zu zwingen und so konnte denn auch jener Uebermüthige, der mit seinen Nachbarn im Streite lag, ungestraft seinem Trotz freien Lauf lassen: Lieber will ich meine Ländereien eine Lanze hoch unter Wasser stehen sehen, als daß ich Hand anlege, meinen Feinden zu helfen.

Diese Uneinigkeit sowohl, wie der Mangel an Kräften, trugen die Schuld, daß nur wenig für Instandhaltung der Deiche gethan ward, so daß, als am 25. December 1277 eine neue Fluth hereinbrach, dieselbe leichte Arbeit fand, die niedergerissenen Deiche vollends zerstörte und die daranstoßenden ebenfalls ganz darnieder legte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_233.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)