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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

thun müssen. – Bis jetzt hatte sich noch die rohe Meinung erhalten (und zwar nicht blos in Schulbüchern), daß jene Planetoiden die einzelnen Stücke eines einst geplatzten Planeten seien! Ich will hierzu kein Wort verlieren.

Es verhält sich mit den Systemen der Himmelskörper ganz so, wie mit den Staatensystemen des politischen Lebens. Während jenes Planetoidensystem sich in kleinere selbstständige Körperschaften auflöste, deren jede ihre eigenen Wege geht, so hat das Erdsystem noch seine Einheit erhalten durch die Furcht vor dem Gesetze; ich meine den Gehorsam vor jenem Schwerpunktsgesetze. Diesem mußte sich die Erde unterordnen, weshalb sie nicht den von uns geträumten bevorzugten Stand erhielt, sondern den eines bloßen Vasallen. Der bis jetzt unbeachtet gebliebene Kronprätendent ist jener „Schwerpunkt des Erdsystems.“

Wo aber ist denn eigentlich dieser neue Herrscher? werden die Leser fragen. Daß jener Punkt zwischen dem Centrum der Erde und dem des Mondes sein muß, versteht sich von selbst, und daß er der Erde viel näher als dem Monde sei, läßt sich errathen; denn wie alle ungehinderte Körper auf der Erde nach deren Mittelpunkte (ihrem specifischen Schwerpunkt) zu fallen streben (was man bekanntlich „Schwere“ eines Körpers nennt), so haben auch Mond und Erde wiederum das Streben, nach dem ihnen gemeinschaftlichen Schwerpunkt[1] zu fallen. Die Erde ist aber 88 Mal schwerer, als der Mond. Man weiß dies bestimmt, denn man hat sie gewogen. Was! wird mancher Leser ausrufen, der recht lebhaft diese zwei furchtbar großen Klumpen mit ihren Bergen und Gebirgen im Geiste vor sich sieht. Allerdings hat man sie gewogen, wenn auch nicht mit einer Krämerwage, und man hat sich überzeugt, daß der Mond 14,770 Trillionen Centner schwer sei, die Erde dagegen 1,300,000 Trillionen Centner. Deshalb läßt sich erwarten, daß die Erde bedeutend näher an jenen „Schwerpunkt“ sank (wenn es erlaubt ist, der Anschaulichkeit halber so zu sagen), und zwar hat man berechnet, daß der letztere Punkt nur noch 584 Meilen vom Erdcentrum nach der Mondseite zu entfernt ist.

Doch bleibt sich diese Entfernung nicht immer gleich, indem die Erde öfters noch näher sinkt, manchmal sogar um 36 Meilen; öfters dagegen ist sie, durch andere Umstände genöthigt, jenem „Punkte“ ferner, was sich ebenfalls bis zu 36 Meilen steigern kann. Wann dies geschieht und wo im Weltenraume und wie weit an jedem einzelnen Tage, jeder Stunde und Minute das Erdcentrum von jenem „Punkte“ entfernt sei, – alles dies vermag die Wissenschaft genau voraus zu berechnen.

Da wir aber von unserer Erdoberfläche bis in den Mittelpunkt der Erde 8–900 Meilen haben, so folgt daraus, daß jener „Schwerpunkt des Erdsystems“ immer noch unter der Erdkruste in der Richtung zum Erdmittelpunkte liegt. Jener gewiß Vielen geheimnißvolle „Punkt“ ist also 275 Meilen tief, senkrecht unter unsern Füßen (natürlich, wenn der Mond gerade über uns steht). Könnte man mit einem Dampfwagen zu diesem „Schwerpunkt des Erdsystems“ fahren, so würden wir schon in 4–5 Tagen dort sein können, während, wenn wir zu dem Monde auf einer Eisenbahn reisen wollten, wir über 2 Jahre lang fahren müßten, ehe wir dort anlangten.

Wie wichtig diese rechte Auffassung unseres Erdsystems sei, wenn man die Natur des Mondes nicht so ungerecht beurtheilen, wie es gewöhnlich bis jetzt geschehen ist, wenn man vielmehr sie richtig begreifen will, – wird sich dem Leser bald zeigen. Ich gebe aber gern zu, daß es nicht für Jeden etwas Leichtes sein wird, sich einen Körper, der zum Theil nur ideelle Theile hat, klar zu denken, da man hierbei die gewöhnliche Steifheit des Vorstellungsvermögens überwinden und es zur nöthigen Biegsamkeit heraufbilden muß. Anhaltende philosophische, besonders aber mathematische Beschäftigungen erleichtern es sehr, da sie vielfältige Gelegenheiten bieten, sich in solche, für Laien meist subtile Objecte hineinzudenken. So hat es z. B. die Mathematik mit „Rotationskörpern“ zu thun, die doch durchaus keine materiellen Bestandtheile enthalten; man berechnet die Größen der Rotationskörper, die also Größen sind, und doch nur aus ideellen Theilen bestehen. Leser, die sich den Körper des Erdsystems nicht deutlich vorstellen können, mögen sich das Verhältniß der Erde und des Mondes zu jenem Schwerpunkte vielleicht dadurch veranschaulichen, indem sie an einen zweiarmigen Hebel denken. Der eine Hebelarm ist hier sehr kurz, an ihm hängt aber eine sehr große Last; der andere Arm ist verhältnißmäßig sehr lang, an ihm zieht ein kleineres Gewicht; letzteres ist der Mond, ersteres die Erde. Der Punkt des Hypomochlion, also die Stelle an dem Hebel, die man unterstützen müßte, wenn beide Hebelarme sich das Gleichgewicht halten sollten, ist jener „Schwerpunkt des Erdsystems.“ Freilich sind auch hier wieder die Arme des Hebels ideell, und der Leser wird immer wieder die alte Schwierigkeit vor sich haben.

Soll sich aber der Leser diese zwei anscheinend himmelweit verschiedenen und für sich selbstständigen Körper, Erde und Mond, zu einer Einheit verbunden, als ein Ganzes denken, so wird noch besonders zweierlei ihm darüber Bedenken verursachen, nämlich die furchtbare Größe und die ungewöhnliche Form.

„Der Mond,“ wird Mancher sagen, „ist so viele Tausend Meilen von der Erde entfernt, und sie sollten zusammen zu einem Körper gehören? Wie furchtbar groß müßte da dieser sein!“

Allerdings, es gehört eine gewisse Kühnheit des geistigen Fassens dazu, die Möglichkeit jenes Körpers zu begreifen; allein diese Zaghaftigkeit werden nur solche Leser haben, die sich noch wenig mit Astronomie beschäftigt haben, und folglich noch nicht sich an die Ungeheuern Dimensionen der Unendlichkeit des Universums gewöhnt haben. Doch ich erinnere die Leser, daß sogar in unserm eignen Sonnensystem ein Körper ist, der mehr als noch einmal so groß ist, ein Körper, der dazu aus lauter materiellen, und, soweit unsere Kenntniß geht, ziemlich gleich dichten Theilen besteht. Gegen diesen gehalten, ist der Körper des Erdsystems sogar klein zu nennen. Jener Körper ist – unsere Sonne. Denkt man sich nämlich die, Sonnenkugel als hohl, und denkt man sich unsere Erdkugel, ganz so groß, wie sie wirklich ist, in die Mitte der hohlen Sonnenkugel, so würde trotzdem noch so viel Platz in letzterer sein, daß die Mondkugel in ihrer natürlichen Größe sich rings um die Erde bewegen könnte, und zwar eben so fern noch, wie der Mond jetzt von uns entfernt ist! Obgleich der Mond gewiß einen gewaltig großen Platz zu dieser seiner ungestörten Bewegung gebraucht, so würde er in jenem angenommenen Falle doch noch nicht an die innere Schale der hohlgedachten Sonnenkugel anstoßen.

Und doch ist diese Sonnenkugel und die Gruppe aller Planeten, die in weiten Bahnen sie umkreisen, wiederum unendlich klein gegen die außerhalb derselben gelegene Sternenwelt. Die ungeheuere Größe dieser letzteren möge folgende Bemerkung anschaulich machen:

In dem Meere der Unendlichkeit befinden sich bekanntlich unzählige sogenannte „Sterneninseln“, und fast alle Sterne, die wir an unserm nächtlichen Himmel sehen, bilden mit unserer Sonne eine einzige solche Gruppe, – unsere Sterneninsel. Stände nun Jemand an dem einen Ende dieses Sternenhimmels, und schauete er durch denselben an das andere Ende, ob dort vielleicht alle Sterne noch da wären, so würde er erst nach 6700 Jahren eine dort stattgefundene Veränderung sehen können; denn – so lange Zeit würde das Licht brauchen, um von jenem Ende der Sterneninsel bis zu seinem Auge zu gelangen, obgleich das Licht, wie vielfältige Berechnungen bestätigen, in einer Stunde einen Raum von 150 Mill. Meilen durchläuft! Dagegen, stände er auf dem Monde, und schauete er auf die Erde, so würde er z. B. eine Zerberstung der Erdkugel schon in der zweiten Secunde darauf sehen können. – Vermöchten wir eine unserer Telegraphenstationen auf den Mond zu verlegen, so langte die dahin telegraphirte Nachricht schon nach dem 73sten Theile einer Minute dort an; also noch in derselben Secunde des Telegraphirens würden dann die Mondbewohner erfahren können, was es für Neuigkeiten auf der Erde gäbe.

  1. Man verwechsle ja nicht: „Erde“ mit „Erdsystem“; es sind also „Schwerpunkt der Erde“ und „Schwerpunkt des Erdsystems“ zwei völlig verschiedene Punkte, deren Entfernung von einander im Weltenraum mehrere hundert Meilen beträgt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_247.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)