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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

große Fenster mehr Licht als nöthig zulassen. Trotzdem ist der Markt, der auch da abgehalten wird, nicht die Hauptsache: es befindet sich nämlich ein Bahnhof hier, wo fast ununterbrochen Eisenbahnzüge ankommen und abgehen und von wo Massen von Menschen und Vieh in die oberen Regionen sich hinaufdrängen. Alles lebende Schlachtvieh, wie alles Geschlachtete, das für den Markt bestimmt ist, kommt vom Lande auf dieser Eisenbahn hier an, welche vor der Barriere der Stadt in einen Tunnel hinein und unter Straßen und Häusern hinweg zu dem Markte geht. In Folge dieser zweckmäßigen Einrichtung werden die Straßen von Paris niemals durch Rinder- oder Schafheerden versperrt, die für die Schlachtbank bestimmt sind. Auch sieht man nie auf den Straßen Wagen und Karren, die mit Fleisch beladen sind, wie es in andern Städten der Fall ist.

Mit diesem unterirdischen Bahnhofe steht eine große Grube in Verbindung, welche alle Abgänge von dem Markte oben, Blut u. s. w. aufnimmt. Die Metzger, Federviehhändler, u. s. w. werfen Alles, was bei ihnen abfällt, in diese Grube, so daß es augenblicklich verschwindet und weder das Gesicht, noch den Geruch beleidigen kann. Verloren geht indeß nichts davon. Es stehen immer Männer bereit, welche das Herabfallende in Gefäße schaufeln, in denen es nach kurzer Zeit zu Niederlagen außerhalb der Stadt befördert wird, die es als Dünger an die Landleute verkaufen. Auch sind diese Abgänge, seit die Ackerbauwissenschaft in Frankreich Fortschritte gemacht hat, so außerordentlich gesucht, daß sie, selbst wenn man sie in doppelt so großer Menge besäße, zu lohnenden Preisen verkauft werden könnten.

Das Vorstehende dürfte wohl genügen, um die Zweckmäßigkeit der Einrichtung dieser Markthallen darzuthun; aber nicht diese Zweckmäßigkeit allein empfiehlt sie, denn sie gehören auch zu den elegantesten und schönsten Bauwerken der Stadt, die an dergleichen bekanntlich reich ist.




Der Schlehdorn.
Ein Philister.

Wer ihn kennt, auch dann kennt, wenn die Blätter den lauernden Dorn verdecken, der geht ihm aus dem Wege, denn Jedermann fürchtet sein heimtückisches Zerren am Kleide, welches ihm der Wind schadenfroh in das Garn treibt. Und dennoch gibt es im Jahre eine Zeit, wo wir Alle erwartungsvoll nach ihm blicken, wo wir den vom Spaziergange Heimkehrenden fragen: „Blüht der Schlehdorn noch nicht?“ Und wenn wir dann selbst hinausgehen und sehen schon von Weitem, daß das schwarzbraune Verhau seines steifen Gezweiges sich mit dem lockeren Blüthenschnee zu umweben beginnt, dann athmen wir freier, als fühlten wir uns nun erst von der letzten Fessel des Winters befreit. So erblicken wir in dem Schlehdorn geradehin einen Gewährsmann des Frühlings. Als ein echter Philister mag er nichts auf das Spiel setzen, ist er ein Anhänger der „vollendeten Thatsachen“. Als hätte er ein kostbares Gut zu verlieren, nimmt er nicht eher Antheil an der fröhlichen Revolution des Lenzes, des Sprengers von Millionen Kerkerpforten, als bis diese Revolution ein fait accompli ist. Und auch da lugt er anfangs mit spießbürgerlicher Zurückhaltung aus seinen tausend weißen Argusaugen hinaus in das neue Regiment, ob auch Alles sicher sei. Dann erst nimmt er Theil am junggewordenen Leben; denn die Blättchen seiner Blüthen sind bereits abgefallen, wenn er endlich auch seine grünen Blätter hervortreibt und zu schaffen beginnt für sein „kostbares Gut“, für seinen Beitrag zum Leben. Und was ist dies? – jene ungenießbare Frucht, für deren Geschmack es unserer Sprache an einem Worte fehlt; denn Herb und Sauer sind dafür noch unverantwortliche Schmeichelnamen. Die heiße Herbstsonne, welche den Saft der Trauben zum süßen Moste klärt, vermag nichts über die Früchte des Sauertöpfischen. Unversucht geht der naschhafte Knabe an den dunkelblauen Kugeln vorüber, welche sich an den bereits halb entlaubten Zweigen ihm darbieten. Er kennt sie und fürchtet einen zweiten Versuch. Was aber die Wärme nicht vermag, das erzwingt endlich zuletzt doch noch – der Frost. Wenn beinahe kein Blatt mehr an den Bäumen hängt und längst Niemand mehr nach Früchten sucht, dann verschrumpfen die endlich doch noch genießbar gewordenen Schlehen unbeachtet am kahlen Zweige. Zu spät! – Ja, du bist ein Philister, mein lieber Schlehdorn!

Starr und ungelenk erheben sich deine Glieder nur wenig über den Boden; hundert Mal nimmst du einen Anlauf, um mit freudig grünenden Zweigen wenigstens einen tüchtigen vollen Busch aus dir zu machen – aber hundert Mal fehlt es dir an der Thatkraft des ausharrenden Wollens und deine Vorsätze verkümmern zu kurzen steifen Dornen, ob deren dich alle Welt flieht.

Deine Unnahbarkeit hat dich auch zum Polizeimanne herabgesetzt. Wo man Menschen und Thiere abhalten will, da bist du der verscheuchende Wächter; auf den Wiesen bist du den Schweifenden die Fußangel, die ihn manierlich auf dem Pfade hält, und mit Strohbändern an den Stamm der Obstbäume gefesselt, mußt du deine Dornen den Nasen der Rehe und Hasen fühlbar machen, wenn sie der Hunger treibt, die Rinde abzunagen. Kein Schaf kommt ungerupft am Dornenbusch vorüber, es muß ihm seinen Tribut zahlen; und nachher kommt die Grasmücke und das Rothschwänzchen und sammeln die Wollflocken, um ihre Nestchen damit auszufüttern, welche tief versteckt in dem Schooße des Busches lauschen.

Wie es solch einem zähen Philister gar nicht anders zuzutrauen ist, so behauptet er trotz aller Mißhandlungen seinen Platz mit unverwüstlicher Beharrlichkeit. Alljährlich zum Polizeidienste abgehauen, treibt er alljährlich neue Schosse und dabei krallen sich seine knorrigen Wurzeln, immer weiter ausgreifend, in den Boden und so wird er nach Polizeiart nicht selten seinem Herrn und Meister selbst unbequem, indem er auch dessen Pfleglinge überwuchert und unterdrückt.

Da kommt dann wohl im Frühjahre das Söhnlein desselben heraus an die Dornhecke, wenn deren steifes Gezweig noch unverhüllt dasteht, um sich einen Spazierstock auszuersehen. Es ist eine Kunst, ohne Wunden an Kleid und Händen dem auserkornen, durch seine stramme Geradheit lockenden Schosse an den Leib zu kommen. Er wird aber dann noch nicht abgeschnitten. Der Knabe ist ja erst 12 Jahr und den Stock will er nach der Confirmation bei seinem ersten Gange als junger Weltbürger führen und will auch damit Aufsehen erregen. Ein alter Schäfer hat ihn gelehrt, wie das zu erreichen. Mit kluger Berechnung und ja nicht unterschätzend denkt er sich, wie groß er selbst nach 2 Jahren und wie groß also auch sein Spazierstock sein müsse. Auf diese ansehnliche Länge wird der auserwählte Schoß glatt ausgeästet. Nachdem dies saure Stück Arbeit vollbracht ist, kommt nun des alten Schäfers Kunst. In regelmäßigen Reihen werden den Schoß entlang von unten nach oben geführte, etwa messerrückentiefe Einschnitte gemacht, und allemal etwas aufgeklafft, und es bleibt dem Knaben nur noch eine Sorge – daß ein anderer Knabe den schönen schlanken Stock finden könne, ja finden müsse. Aber wird sich auch des alten Schäfers Kunst bewähren? Er hatte gesagt, die oberen wohlweislich nicht abgeschnittenen Zweige des Schosses würden nun die zwei kommenden Jahre den von ihnen gebildeten Saft unter der Rinde abwärts schicken, und so würde sich aus jedem Schnitt eine wulstförmige Narbe bilden. Der Alte hatte Recht, wie alte Schäfer in ähnlichen Dingen oft Recht haben, denn sie „beobachten.“ Der Knabe wird in zwei Jahren einen recht schönen Stock von dem Schlehdorn erhalten, und von seinen Cameraden viel darum beneidet werden.

Lassen wir uns diesen kleinen Dienst, den der Schlehdorn dem Knaben leistete, auffordern, nachzusehen, ob er nicht auch zu größeren Dienstleistungen fähig sei. Da muß uns ja wohl etwas einfallen, – aber freilich, daran hatten die Wenigsten gedacht. Der Schlehdorn bereitet nicht blos als Wiesenhüter den crinolingeschwellten Damen einen dornenvollen Pfad, sondern auch dem, der vor Allen am liebsten den kürzesten Weg geht – dem fallenden Tropfen. Fällt Euch nun, liebe Leser, der Beruf unseres Dornbusches ein?

Wie die Sonne am Morgenhimmel, so muß Euch jetzt der Ruhm desselben aufgehen. Wer jemals daran gedacht hat – und leider wie Wenige thun das! – die Bedeutung des Salzes durchzudenken,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_303.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)