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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

„Ich kann ihn auch in den ersten acht Tagen noch nicht zurückerwarten. Er hatte nur sehr wenig Geld; er mußte daher die Hinreise fast ganz zu Fuße machen.“

„Er ist nicht hier? Das ist freilich ein sehr schlimmer Umstand.“

Hatte sie mir doch nicht die Wahrheit gesagt? War dennoch der Jäger der Mörder? War er ihr Gehülfe? Jedenfalls gewann der Verdacht gegen sie an neuer, an außerordentlicher Stärke. Ich sann schweigend über diese plötzliche Veränderung der Lage der Sache nach. Sie konnte meine Gedanken errathen.

„Aber er kommt bestimmt zurück,“ sagte sie.

„Erwarten Sie es?“

„Ich bin überzeugt davon; ich schwöre darauf.“

Sie sprach mit festester Zuversicht und konnte nicht gelogen haben. Dennoch mußte ich sie jetzt nach dem Gesetze als verdächtige Mörderin betrachten und behandeln. Sie hatte sich zu Situationen und Handlungen bekannt, auf deren Grund ein französisches Geschwornengericht sie gar schuldig erklärt haben würde. Der einzige Zeuge, der für ihre Unschuld sprechen konnte, war nicht da. Ich erklärte ihr das.

Sie war wieder ruhig geworden. Oder war nach all’ den Stürmen der letzten Stunden eine Erschlaffung, ein erklärlicher Zustand der Unempfindlichkeit bei ihr eingetreten?

„Wie oft, wie lange habe ich mit diesem Gedanken mich vertraut machen müssen!“

Weiter sagte sie nichts. Ein schwerer Seufzer begleitete die Worte. Dann legte sie das blasse, schöne Gesicht in ihre beiden Hände.

Die Unglückliche! Als Verbrecherin in den Händen des Gerichts! So verlassen, fern von Allen, die sie liebte, von denen sie geliebt wurde! So ganz allein, so völlig verlassen.

Aber muß ich sie denn als Verbrecherin behandeln? Soll sie acht Tage lang als solche gelten, bis jener treue Diener wiederkommt, auf dessen Rückkehr sie baut, wie nur je ein frommer Mensch auf seinen Gott?

Wieder trat ein Bild vor meine Seele, das heute schon mehrere Male, immer ohne daß ich eine Veranlassung gehabt hatte, daran zu denken, wie ein dunkler Schatten an mir vorübergezogen war. Es trat Heller, in bestimmteren Umrissen vor mich. Es waren die schöne, leichtfertige Försterstochter und ihr strenger, jähzorniger Vater. Ich mußte es festhalten. Es entschwand mir nicht wieder.

Ich wandte mich wieder an die Unglückliche.

„Sie stutzten vorhin, als ich Ihnen von der Tochter des Försters sprach!“

Aber sie schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, das war nur ein flüchtiger Gedanke.“

„Sie wissen nichts von ihr?“

„Gar nichts.“

„Sie haben auch keine Vermuthung?“

„Nicht die geringste.“

Ich sandte dennoch zwei Criminalboten fort, um den Förster und seine Tochter – er war Wittwer und wohnte mit ihr allein – herbeizuholen; getrennt zwar, aber als Zeugen und mit aller Rücksicht, die man einem Zeugen schuldig sei.

Unterdeß waren die beiden Kreisärzte aus Tilsit angekommen. Ich ließ das Täfelwerk in dem Bibliothekzimmer aufheben, an der Stelle, wo der Leichnam vergraben sein sollte. Die frisch ausgegrabene Erde lag unmittelbar unter den Bietern. Ich ließ sie aufgraben. Da lag die Leiche in voller Bekleidung; sie war schon ziemlich verweset, aber noch kenntlich.

Die Unglückliche, der That Verdächtige hatte bei dem Aufgraben zugegen sein müssen; ich konnte sie nicht davon befreien. Es war eine fürchterliche halbe Stunde für sie. Aber als endlich der Leichnam offen zu Tage kam, da war es doch, als wenn eine wunderbare Kraft sie wieder erhoben hätte.

Einen andern Eindruck machte der Anblick auf die Gräfin Ruthenberg. Auch ihr mußte ich nach Vorschrift des Gesetzes die Leiche vorzeigen. Ich hatte ihr vorher mitgetheilt, daß ihr Neffe wirklich getödtet sei, daß die That in dem Bibliothekzimmer verübt worden wäre und dort auch die Leiche verscharrt liege. Ueber den näheren Umständen der That und über dem Thäter ruhe noch ein Dunkel. Die Mittheilung hatte sie doch ergriffen. Die Stimme ihres Gewissens mochte laut genug in ihr sprechen; aber sie gewann bald Gewalt über sich, um ihr Inneres zu verbergen. Da führte ich sie zu dem Leichnam. In dem ersten Augenblicke konnte sie noch einen Blick der Wuth auf ihre Gesellschafterin werfen, die sie für die Thäterin hielt; aber als sie den in Gott ergebenen und auf Gott vertrauenden Blick der Reinheit und Unschuld in den Augen des Mädchens sah, da brach sie zusammen; ein fürchterlicher, der menschlichen Stimme fast nicht ähnlicher Schrei entfuhr ihrer Brust. Sie konnte den Anblick, nur die Nähe des Todten nicht mehr ertragen. Sie stürzte aus dem Zimmer.

Es ist doch etwas um Unschuld und Recht, um Schuld und Gewissen und Strafe des Gewissens.

Jene Unglückliche hielt ich immer mehr für unschuldig. In diesem Gegensatze fand ich volle Bestätigung. Aber das war nur für meine alleinige innere Ueberzeugung, und, diese galt vor dem Gesetze gar nichts. Sollte ich auch den Beweis des Gesetzes erhalten? Eine günstige, freilich nur schwache Vermuthung ergab die nähere Besichtigung der Leiche; sie zeigte unmittelbar über dem Herzen eine breite Stichwunde. Wie sich nachher bei der Section auswies, war das Herz fast vollständig in der Mitte durchbohrt, so daß der Tod auf der Stelle hatte erfolgen müssen. Die Wunde aber hatte eine Länge und Breite, die nicht dem feinen Dolche zu entsprechen schien, den die Verdächtige mir übergeben hatte; ein stärkeres und breiteres Instrument schien sie hervorgebracht zu haben.

„Ein Hirschfänger etwa?“ fragte ich die Aerzte.

„Es wäre möglich.“

Aber mit Gewißheit, nur mit einem höheren Grade von Wahrscheinlichkeit konnten sie nichts sagen; die Verwesung war gerade an jener Stelle des Körpers zu weit vorgeschritten. Mit welcher Spannung sah ich dem Verhöre des Försters und seiner Tochter entgegen! Die Criminalboten, die ich zu dem Försterhause abgeschickt hatte, waren zurückgekehrt und hatten nur die Tochter mitgebracht. Der Förster war nicht zu Hause gewesen; er war seit Mittag im Walde. Im Försterhause war die Anweisung an ihn zurückgelassen, gleich nach seiner Rückkehr zum Schlosse zu kommen. Ich ließ das Mädchen zum Verhör vorkommen. Ich vernahm sie ohne die Gegenwart Dritter; nur mein Actuar war, wie das Gesetz es forderte, bei mir, um das Protokoll zu führen. Die Nachricht von dem Tode, von der Ermordung des jungen Grafen, von der Auffindung der Leiche, von der Anwesenheit des Criminalgerichts, um die Sache zu untersuchen, hatte sich schnell verbreitet; weiter war aber nichts bekannt geworden.

Das Mädchen trat befangen herein. Sie war hübsch, frisch; sie hatte den Blick jener leichtfertigen, aber allerdings einfachen Koketterie, die den Männern gefallen will, weil sie die Männer liebt. Sie ist leicht zu berücken, weil sie eben um jeden Preis geliebt sein will. Dem hübschen, gewandten, vornehmen jungen Grafen mochte sie um jeden Preis haben gefallen wollen. Der ausschweifende junge Mensch konnte mit ihr vorlieb genommen haben. Das machte ihre Befangenheit erklärlich; an irgend etwas Anderes konnte man dabei nicht denken. Auch ihr ferneres Benehmen gab keinem weiteren Verdachte Raum.

„Haben Sie den Grafen Paul Ruthenberg, den Neffen der Frau Gräfin, gekannt?“

Sie erröthete, sie mußte die Augen niederschlagen.

„Er war ja ein paar Wochen hier auf dem Schlosse,“ entgegnete sie.

„Sie haben ihn also gekannt?“

„Ich habe ihn wohl gesehen.“

„Auch gesprochen?“

Sie erröthete von Neuem.

„Er hat mich ein paar Mal angeredet.“

„Wo war das?“

„Am Schlosse, im Garten.“

„War er nicht bei Ihnen, in Ihrer Wohnung?“

Sie zögerte mit der Antwort.

„Nun?“

„Nur einmal.“

„Waren Sie allein mit ihm da?“

„Ja.“

„Wo war Ihr Vater?“

„In dem Forst.“

„War es bei Tage oder bei Abend?“

„Es war noch bei Tage.“

„Also gegen Abend?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_319.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)