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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Krankheit geschrieben steht. Ein Nachttisch dient zur Aufbewahrung der nöthigen Geschirre, ein Bettschirm, um die schweren Patienten von den Uebrigen abzusondern. Zwischen je zwei Sälen liegt die Wärterstube, wo Tag und Nacht die Heildiener sich aufhalten; sie sorgen für die Bedürfnisse der Kranken und zeichnen sich meist durch ihre Erfahrung und Menschenfreundlichkeit aus. Es gibt darunter alte Praktiker, die sich durch eine Reihe von Jahren einen wirklichen diagnostischen Scharfblick angeeignet haben.

Werfen wir einen Blick auf die anwesenden Kranken, so finden wir die verschiedensten Leiden vertreten, von der leichten Wunde bis zum brandigen Geschwür, vom einfachen Knochenbruch bis zur Zermalmung eines oder beider Füsse. Dort der kräftige Mann ist so eben erst amputirt worden; er arbeitete in einer Maschinenanstalt, wo ein Rad ihn am Arme ergriffen. Nur eine Operation konnte ihn vom sichern Tode retten. Einige Schritte von ihm liegt ein Maurer, der beim Bau einen Hauses verunglückt ist. Sein Schädel zeigt bedeutende Verletzungen; er hat daß Bewußtsein verloren, weil ein Knochensplitter oder daß ausgetretene Blut auf die weiche Gehirnmasse drückt, und daß Seelenleben stört. Nur die Trepanation, welche in wenigen Minuten bei ihm angewendet werden soll, kann ihn vielleicht noch retten, und seiner Familie den Ernährer erhalten. Jener bleiche junge Mann, der um den Hals einen Verband trägt, ist ein Selbstmörder, der durch einen Schnitt seinem Leben ein Ende machen wollte. Er hat die Kehle verletzt, und die Nahrungsmittel werden ihm durch eine Gummiröhre eingeflößt, um die Wunde nicht von Neuem aufzureißen. Dazwischen stehen und sitzen Reconvalescenten und Wiedergenesene, die sich unterhalten oder durch Lesen die Zeit zu vertreiben suchen.

Wir steigen noch eine Treppe höher und kommen so in die Station für innere Krankheiten, wo der dirigirende Arzt den Patienten eben seinen Besuch abstattet. Wir schließen uns der Visite an, und haben so die beste Gelegenheit, die Behandlungsweise der Kranken kennen zu lernen. Der Geheimrath tritt in Begleitung eines sogenannten Charitéchirurgen und der versammelten Kliniker an das Bett, und stellt ein genaues Examen an, worauf er das Wesen der Krankheit, die Diagnose festsetzt, und die nöthigen medicinischen und diätetischen Anordnungen trifft, welche von dem Assistenten aufgeschrieben werden. Hierauf wird der Patient einem der anwesenden Studirenden, die wenigstens schon das vierte Semester zurückgelegt haben müssen, zur ferneren Behandlung übergeben, so daß es diesen nicht an praktischer Ausbildung fehlen kann. – Mit allen der Wissenschaft zu Gebote stehenden Hülfsmitteln wird dabei verfahren, kein noch so geringes und unscheinbares Symptom übergangen, das Höhrrohr und die chemischen Reagentien fleißig angewendet, und oft mit bewunderungswürdigem Scharfsinn das verborgene Leiden erforscht und richtig erkannt. Die große Anzahl der Kranken gestattet dem Lernenden, sich eine genaue Kenntniß der verschiedenartigsten Fälle zu verschaffen. Hier sieht er alle möglichen Formen und Stadien, eine Gallerie menschlicher Gebrechen und Qualen.

Wir verlassen die alte Charité, welche ungefähr 800 Betten enthält, um uns nach der neuen zu begeben, welche ein wahrer Prachtbau genannt zu werden verdient. Dieselbe ist von allen Seiten von einer Mauer umgeben und abgeschlossen, außerdem wird sie sorgfältig bewacht, da sie außer den Wahnsinnigen auch noch die kranken Gefangenen enthält. Wer jedoch den heiteren, mit Blumen und Palmen besetzten Flur und die in gleicher Weise verzierten Treppen sieht, der dürfte am wenigsten glauben, daß dies der Aufenthalt des Wahnsinns und der Verbrechen sei. Alles zeigt hier die größte Sauberkeit, welche fast an Eleganz grenzt. Die unteren Stockwerke sind für die Irren und Nervenkranken bestimmt, die oberen für die an ansteckenden Krankheiten Leidenden und für die kranken Gefangenen. Es ist hier viel selbstverschuldetes Elend aufgehäuft, und der Sittenmaler findet ein reiches Material in diesen Sälen. Unter den Wahnsinnigen macht sich in neuester Zeit der religiöse Wahnsinn in seinen mannichfachsten Formen besonders bemerkbar.

Die Irrenanstalt steht unter der Leitung des Geheimraths Ideler, eines der ausgezeichnetsten Aerzte auf diesem Gebiete. Die Seelenheilkunde hat ihm viel zu verdanken, am meisten durch die consequente Anwendung des Turnens und der Heilgymnastik bei Geisteskranken, womit er wahrhaft überraschende Resultate erzielt hat.

In dem sogenannten Pavillon halten sich die angesteckten Männer und Dirnen auf. Wer das Laster in allen seinen Formen und schrecklichen Verheerungen kennen lernen will, der braucht nur eine Wanderung durch diese Räume mit uns zu machen. Hier findet er ein Material, wie es ihm nur selten geboten wird, verlorene Männer und Frauen in allen Stadien, vom ersten Fehltritt an bis zur vollendeten Verderbtheit. Leichtsinn und Verzweiflung, Reue und Verstocktheit wohnen hier dicht beisammen, näher, als es wohl gut sein möchte, aber der Arzt hat es nur mit den leiblichen Gebrechen der Menschheit zu thun. Wer aber heilt die moralischen?

Den traurigsten Eindruck machen die kranken Gefangenen, welche nach ihrer Heilung der Criminaljustiz verfallen sind, und das Krankenhaus nur verlassen, um in den Kerker zurückzukehren. Zu den Leiden des Körpers gesellen sich die der Seele, Gewissensbisse und Furcht vor der Strafe steigern oft ihre Qualen auf das Höchste. Mancher Mörder, der schwer darniederliegt, mag den Tod mit Innbrunst herbei wünschen, und in seinen Fieberträumen ängstigt ihn die Vision des schrecklichen Blutgerüstes, das seiner wartet.

Dicht an die neue Charité grenzen das Pockenhaus und das Choleraspital, zwischen denen die Capelle liegt, wo die Leichen der Gestorbenen ausgestellt und vom Prediger der Anstalt eingesegnet werden.

Ueber einen großen Hof gelangen wir zu dem „Gebärhause“, wo die armen Wöchnerinnen der schweren Stunde ihrer Entbindung entgegensehen. Die innere Einrichtung zeigt von allem möglichen Comfort. Zwei Hebammen und mehrere Geburtshelfer versehen Tag und Nacht den Dienst. Die meisten Schwangeren finden schon vier Wochen vorher Aufnahme und Pflege; so wie sie auch die Sechswochen hier abhalten dürfen. Sie werden mit all der Rücksicht und Schonung behandelt, welche ihr Zustand erheischt. Trotzdem herrscht Jahr aus Jahr ein in diesen Räumen das schreckliche „Wochenfieber,“ welches täglich neue Opfer fordert. Zuweilen greift die Epidemie so stark um sich, daß das Gebärhaus geräumt und sämmtliche Wöchnerinnen entfernt werden müssen. Die Zwischenzeit wird dazu genutzt, durch Lüften der Säle und Weißen der Wände das Contagium zu zerstören, was jedoch nur immer auf kurze Zeit gelingt, da es sich stets von Neuem zu erzeugen scheint. Außer den Studirenden gewährt die Anstalt auch einer Anzahl von Frauen die Gelegenheit, sich zum Hebammendienste auszubilden, und sich hier die nöthigen Kenntnisse zu erwerben.

Vorzugsweise für die Wöchnerinnen, wenn eine Umquartierung derselben erforderlich ist, aber auch für andere Patienten dient das neue Sommerlazareth, welches durch den leichten, luftigen Bau seiner Bestimmung vollkommen entspricht und einen Theil der Kranken während der heißen Monate aufnimmt. Durch diese Einrichtung wird nicht nur ein wohltätiger Wechsel erzielt, sondern auch die Möglichkeit gegeben, die nöthigen Reparaturen in den verlassen Zimmern vorzunehmen. Die Zahl der Betten, welche das Sommerlazareth enthält, beläuft sich auf fünfhundert. Mit diesen Anstalten, welche ausschließlich zur Aufnahme der Kranken dienen, und worin noch einige Beamte wohnen, ist eine Reihe von Wirthschaftsgebäuden verbunden, in denen für die Bedürfnisse der Charité gesorgt wird. Man kann sich ungefähr eine Vorstellung machen, welch’ einen Kostenaufwand die Unterstützung und Verpflegung von mehr als zweitausend Personen täglich verursacht. Diesen Verhältnissen angemessen ist die „Küche“ angelegt, worin ein Koch mit mehreren Gehülfen die Speisen für sämmtliche Patienten und für die Unterbeamten, Wärter u. s. w. bereitet. Unter vier großen Heerden brennt ein mächtiges Feuer. In riesigen Kesseln, von denen jeder ungefähr 1500 Quart faßt, dampft die Suppe und das Fleisch. Auch an Braten fehlt es nicht für die Reconvalescenten, so wie an dem zugehörigen Compot. Die Verpflegung läßt nichts zu wünschen übrig und kein Kranker hat Ursache, sich zu beklagen. Es wird dabei höchst sorgfältig auf die angeordnete Diät Rücksicht genommen, wobei drei verschiedene Grade im Gebrauch sind. Den Fieberkranken wird eine schwächere, den übrigen eine nahrhaftere Kost verabreicht, oft noch durch ein kräftiges Bier oder ein Glas Wein bei Reconvalescenten gewürzt.

Auch das „Waschhaus“ mit seiner Einrichtung verdient unsere Beachtung. Den Kranken fehlt es nicht an frischer Wäsche, da Reinlichkeit häufig die Cur unterstützen muß. Die jährlichen Ausgaben für diesen Verwaltungszweig belaufen sich allein jährlich auf 10,540 Thaler; trotzdem die Wäsche so billig als möglich betrieben wird, so daß 100 Pfund derselben nicht höher als 29 Sgr. und 5 Pfennige zu stehen kommen. Das Waschhaus ist mit einer Dampfmaschine versehen, welche das nöthige warme Wasser und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_340.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)