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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Sie sieht sich noch einmal im Zimmer um und geht dann hinaus, die Thüre schließend. Ruhig steigt sie die Treppe hinauf in’s zweite Stock, weiter fort die schmale kleine Treppe zum Boden, da setzt sie sich auf eine alte, morsche Kiste, welche hier neben allerhand Geräthe steht. Sie legt wieder die Hände in den Schooß, von Neuem zuckt’s in ihrem Gesichte, ihre Lippen scheinen sich zu bewegen – sie weint. Plötzlich steht sie auf. Sie reißt sich das seidene Tuch vom Halse. Rasch an den Pflock dort und rasch um den Hals geschlungen – noch einige Minuten ein zuckender Todeskampf – nun ist’s geschehen – nun ist der Schmerz begraben.




IV.


Es ist schon tief dämmernd und die Nacht hereingebrochen, aber wenn die liebe Heimath so nahe ist, die Heimath, die man seit Jahren nicht wieder gesehen, wer sollte da sich von dem Dunkel zurückschrecken lassen, da macht die Freude die Nacht zum hellen Tage und verleiht den Füßen Flügelkräfte, und es hat auch wieder etwas Schönes, etwas Poetisches, so über Nacht in der Heimath anzukommen, statt so am nüchternen Tage. Es klopft draußen an der Hausthüre. Wer mag das wohl sein in der späten Nacht; gerade zu stören in dem lieben Traume; wir waren gerade bei dem lieben Sohne, der in der Fremde weilt, wir unterhielten uns mit ihm, schlossen ihn in die Arme, nun ist das Glück gestört, nun war es nur ein Traum – doch ist es wirklich ein Traum? Die Stimme da drunten hatte so etwas Bekanntes, regte alte liebe Klänge in uns wieder an. Wir lassen den nächtlichen Besuch ein, leuchten ihm in die Augen – war es denn wirklich kein Traum – die Züge scheinen uns so bekannt – das Gesicht so ähnlich, nur der Bart – doch der kann in der Länge der Zeit schon gekommen sein – wahrhaftig – er ist’s, es ist kein Traum mehr. Da wird schnell Lärm gemacht, das vereinsamte Bett schnell bereitet und ein warm Süppchen gekocht. Wie erwartungsvoll wird dann dem Morgen entgegengesehen, wo eine liebe Stimme mehr das „Guten Morgen“ spricht, als bisher! Man plaudert ein halb Stündchen länger zum Kaffee – und dann geht’s in der Eile zu Muhmen und Basen und all’ den Nachbarsleuten, – die Bäckersfrau hat’s gleich heut Morgen erfahren beim Semmelholen, daß er da ist, der liebe Ersehnte, wohl, frisch und gesund und hübsch, ei, wie hübsch geworden – das Letzte hat besonders der Nachbarin junges Töchterlein aufmerksam vernommen. Wenn man so über Nacht heim kommt, wird man viel früher heimisch zu Hause; die Nacht, der Schlummer hat Heimath und Fremde vermittelt, den Uebergang gleich gebahnt; eh’ wird man nicht heimisch zu Hause, als bis man eine Nacht wieder da zugebracht.

So meinte auch der rüstige junge Wanderbursch, der dort auf der Straße einherschritt. Nur noch eine Stunde weit nach Hause und wegen der hereinbrechenden Nacht noch einmal zu übernachten, noch einmal bei fremden Leuten sich zu betten, während das liebe Elternhaus so nahe – das wäre doch furchtsam und zugleich thöricht gedacht. Nein, rüstig fort bis an’s Ziel, die Zeit mit lieben Erinnerungen ausgefüllt und mit freudigen Bildern der Zukunft ausgeschmückt!

„Was wohl jetzt mein holdes Röschen macht? Sie sitzt vielleicht noch einsam im Gärtchen, in der Laube, um die sich ihr tausend liebe Erinnerungen ranken – so allein, das Mütterchen kann die Abendluft nicht vertragen, doch nein, – nicht allein, sie denkt wohl an mich, den Fortgezogenen, bin ich doch auch nicht allein, geht sie doch stets an meiner Seite – das liebe, liebe Kind. Wie werden meine Eltern sich freuen, wenn ich ihnen von ihr erzähle; es reut mich fast, daß ich sie nicht gleich selbst mitgebracht habe – die Eltern, was sie wohl jetzt vornehmen werden? Nun, der Vater, der Vater sitzt wahrscheinlich im goldnen Lämmlein beim Bierkruge und schmaucht behaglich sein Pfeifchen, denn das hat er früher immer so gehalten, aber die Mutter – die Mutter ist gewiß zu Hause. Sie wird am Fenster sitzen und stricken, am Fenster – ob wohl die Monatsröschen da noch in den Töpfen stehen, die ich einmal dahin gepflanzt? – die Mutter – und die denkt gewiß auch an mich – wie ich sie überraschen will, ich trete zu ihr hin – erscheine wie als Fremder – spreche sie vielleicht um eine Gabe an – sie wird mich nicht gleich wieder erkennen – wie ich mich darauf freue, wenn ich mich dann plötzlich ihr zu erkennen gebe – die gute, liebe Mutter!“ –

„Ein saures Stückchen Brod! Die alten Knochen sind doch noch recht schwer –“ das sagte ein Mann, der einen Karren vor sich her schob durch das Dunkel der Landstraße.

„Guten Abend, Landsmann!“ sagte lustig der junge Goldschmied. „Wo hinaus noch so spät? Was habt Ihr denn da?“

„Muß noch nach J…a. Was ich da habe? Futter für die Herren Mediciner in J., und wenn die es satt haben, bekommen es die Hündlein und die Vögel unter dem Himmel. Sie werden mit ihr nicht viel mehr machen können, es ist eine arme alte Frau, die sich erhängt hat. Ihr werdet ja wohl die Geschichte des Goldschmieds kennen. Er hat gefalschmünzt und sitzt jetzt hinter eisernen Stäben, und sie hat sich aus Gram darüber die Gurgel zugeschnürt. Na, ich hab’ Eile. Gute Nacht!“

„Ein Goldschmied, sagt Ihr? Wie heißt der Mann?“

„Na, wie soll er heißen? Hartmann heißt er.“

Der arme Heinrich hat kein Wort gesagt, er stand noch eine Weile sprachlos, starr, der Wanderstab entfiel seiner Hand, plötzlich erhob er eine furchtbare, weithin schallende Lache, und rannte in wilder Flucht in die Nacht hinein – geraden Wegs durch den Wald, der an der Straße lag.

Am Morgen fanden Holzhacker einen jungen Menschen unter einem Baume im Walde sitzend; er spielte mit Blumen, die er gepflückt hatte. Aus seinen irren Augen starrte der Wahnsinn. Man erkannte aus seinen gebrochenen Worten und aus den Papieren, welche er bei sich trug, daß es der junge Goldschmied Heinrich Hartmann war. Man schaffte ihn in die Irrenheilanstalt zu J. Still und ruhig lebt er dort in der Nacht, die seinen Geist gefangen hält. Mechanisch gehen die Functionen des Körpers fort, er lebt, lebt immer fort, aber sein Geist ist gestorben, todt für alle Zeiten.

Wer das Irrenhaus in J. besucht, kann den armen Heinrich jetzt noch lächeln und spielen sehen.




Und Röschen? – Sie harrte, harrte wie an jenem Abend, harrte Stunden, Tage, Jahre, er kam nicht. Still pflegte sie ihre Blumen, und läßt sich heimlich von ihnen all’ ihre Erinnerungen wieder erzählen, deren Zeugen sie waren. Eine Hoffnung nährt sie noch – die auf droben – da muß sich ihr Harren doch noch einmal erfüllen.

Tr. Hbg.




Leipzig jetzt und vor zweihundert Jahren.


Ein Blick auf die beiden Ansichten von Leipzig, die wir vorlegen – und von denen die eine aus dem Ende des siebenzehnten Jahrhunderts herrührt, während die andere erst vor wenigen Wochen nach der Natur aufgenommen wurde – läßt nicht blos erkennen, wie die berühmte Meß- und Universitätsstadt sonst war, und wie sie jetzt ist, sondern zeigt auch das Charakteristische der Städte in alter und neuer Zeit. Sonst drängten sich die Stadtbewohner so eng als möglich an einander, bauten ihre Häuser nahe zusammen zu schmalen Straßen, thürmten Stockwerke über Stockwerke, wenn die Einwohnerzahl wuchs und der Raum für die Wohnungsuchenden fehlte, umschlossen sich mit Mauern und Bastionen, und gestatteten den Eingang nur durch enge, burgartige, befestigte und streng bewachte Thore. Der so umschlossene Raum war die eigentliche Stadt, die sich gegen äußere Feinde im Nothfalle schützen konnte, und deren Bewohner die vollen Rechte und Pflichten der Bürger hatten. Wie um einen Edelhof her sich aber die von demselben beschäftigten Arbeiter ansiedelten, bauten sich vor den Städten allmählich Leute an, die ihre Beschäftigung in der Stadt fanden, aber aus irgend einem Grunde in derselben nicht wohnen durften oder konnten. So entstanden die Vorstädte, die im Kriege u. s. w. allen Gefahren ausgesetzt waren, denn sie wurden nicht nur von anrückenden Feinden geplündert und verbrannt, sondern nicht selten auch von der eigentlichen Stadt selbst zerstört, damit die Feinde da sich nicht festsetzen könnten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 379. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_379.jpg&oldid=- (Version vom 24.6.2020)