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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Zu ihrer beiderseitigen Zerstreuung und Erholung wurden kleinere und größere Reisen unternommen, von denen ein Ausflug nach Petersburg und Moskau zu den dort lebenden Verwandten ihnen die mannichfachsten und bedeutendsten Anregungen und Bereicherungen ihrer Anschauungen brachte. In dem Hause und in der Familie des reichen Barons von Stieglitz wurde ihnen die freundlichste Aufnahme zu Theil; dort lernten sie eine kaufmännische, ihrem eigenen Leben gänzlich fremde, großartige Thätigkeit kennen, der sie ihre Anerkennung und Achtung nicht versagen konnten. Besonders fühlte sich Charlotte zu dem Chef des Hauses hingezogen, der mit der klaren und scharfen Auffassung des erfahrenen Geschäftsmannes die humanste Bildung und den feinsten Takt verband. Ihm vertraute sie auch ohne Rückhalt ihre Bedenken über die aufreibende Thätigkeit ihres Mannes, dem sie vor allen Dingen eine unabhängige Stellung wünschte, weil sie in den Beschwerden seines Doppelamtes einzig und allein den Grund seiner inneren Unzufriedenheit sah; sie wollte ihn der gemeinen Sorge für das tägliche Brod und einer unerfreulichen Beschäftigung enthoben sehen, damit er sich von nun an um so freier und ungehinderter dem Dienste des Genius und der Poesie widmen könnte. Der großmüthige Onkel nahm diese schüchtern angedeuteten Wünsche der zutrauungsvollen jungen Frau mit zarter Berücksichtigung auf und versprach ihr vor der Abreise, für Heinrichs Zukunft Sorge zu tragen, falls derselbe seine bisherige Stellung aufgeben wollte. Charlotte dankte dem würdigen Manne mit kindlicher Zärtlichkeit und überließ sich der verzeihlichen Täuschung, durch eine derartige äußere Veränderung dem Geliebten für immer den inneren Frieden gesichert zu haben.

Der Anschein sprach für ihre Ansicht, da die Zeit, welche auf diese Reise folgte, durch keinen Unfall getrübt, in der heitersten Weise für sie verfloß. Der Petersburger Aufenthalt hatte auf Heinrichs Gemüthsstimmung überaus vortheilhaft eingewirkt; das reiche und anregende Leben in dem Hause des Onkels, die fortwährende Abwechselung, die ihm in dieser fremden Welt geboten wurde, die großartigen Verhältnisse seiner neuen Umgebung, die Erweiterung seines Gesichtskreises konnten ihren erfrischenden und stärkenden Eindruck auf ihn nicht verfehlen. Selbst das anspruchslose Stillleben in seiner Studirstube zu Berlin bildete jetzt einen angenehmen Contrast zu dem geräuschvollen Treiben und dem prachtvollen Aufwände in dem Hause des großen Bankiers. Er bedurfte und fand erst in den gewohnten Verhältnissen die nöthige Sammlung, um die empfangenen Eindrücke zu verarbeiten und sich ihrer in der Rückerinnerung zu erfreuen. Seine früheren Beschäftigungen waren ihm wieder lieb geworden und mit doppeltem Eifer kehrte er zu seinen alten Büchern und Arbeiten zurück. Nie war Stieglitz zum Schaffen und Dichten so aufgelegt gewesen, wie nach diesem Besuche, seine Gesundheit blieb bis auf ein kleines Unwohlsein ungetrübt, seine Stimmung heiter und selbst zum Scherze aufgelegt. Charlotte freute sich an seiner guten Laune und ließ, wenn er von der Arbeit ausruhte, ihren herrlichen Gesang zur Belohnung erschallen.

So leuchtet die Sonne am schönsten, bevor sie untergeht; so duften die Blumen am süßesten, wenn sie für immer verwelken wollen. –

Im Frühjahr 1834 entwickelte sich von Neuem bei Stieglitz jenes räthselhafte Nervenleiden, welches die Medicin mit dem allgemeinen Namen der „Hypochondrie“ zu belegen pflegt. Gerade die am meisten geistig begabten Menschen sind ihm verfallen, eine Beute dieser wunderbaren Krankheit, die sich in den verschiedensten Formen und in stets wechselnden Stimmungen kund gibt; bald in übermüthige Hoffnungen, bald in kleinmüthige Verzweiflung ausbricht, mit selbstquälerischer Phantasie vor eingebildeten Schreckbildern zittert und die Willenskraft nach und nach vollkommen lähmt. Stieglitz hatte die körperliche Disposition durch seine Lebensweise, geistige Ueberanstrengung und Mangel an Selbstbeherrschung zu einem bedenklichen Grade der Entwicklung gesteigert. Statt den Dämon, der mehr oder minder in jeder Menschenbrust schlummert, zu bekämpfen, den lauernden Feind niederzuhalten, überließ er sich wie Tasso den dunklen Mächten, welche allein der feste Wille zu besiegen im Stande ist. In einzelnen Aeußerungen und Ausbrüchen gab sich seine damalige Reizbarkeit zu erkennen, er haderte mit seinem Schicksal, statt, es mit Geduld zu ertragen.

„Ich will nicht länger mehr,“ rief er einst in eigensinniger Verblendung, „die verstimmte Leyer, ich will der stimmführende Spielmann sein, der Ernst und Spiel zu mächtigen Accorden eines Weltchors vereint!“

Charlotte suchte ihn durch milden Zuspruch zu beruhigen; sie litt unaussprechlich, da sein Zustand sie oft den Uebergang zum Wahnsinn fürchten ließ. Seine Launen ertrug sie mit rührender Geduld, sie theilte seine selbstgewählte Einsamkeit, sie war seine einzige Gesellschaft, die treueste Krankenpflegerin; all ihr Sinnen und Trachten war nur darauf gerichtet, ihm die Gesundheit wieder zu verschaffen, das gestörte Gleichgewicht seines Geistes wieder herzustellen. Man muß derartige hypochondrische Patienten häufig und in der Nähe beobachtet haben, um die ganze Größe ihres Opfers zu begreifen; sie peinigen nicht nur sich, sondern noch weit mehr ihre Umgebung, sie entwickeln eine wahrhafte Höllenkunst der Quälerei für sich und Andere; sie reiben den stärksten Willen, wie die zarteste Hingebung endlich auf, und theilen in nicht seltenen Fällen ihre eigene geistige Zerstörung den Nächsten mit, wie ein ansteckendes Contagium, das auch den gesunden Körper nicht verschont. In jener Zeit mag Charlotte wohl den Grund zu ihrem eigenen spätern psychischen Leiden gelegt haben, woran sie zu Grunde ging. –

(Schluß folgt.)


Aus Amerika.
Ein Hinterwäldler von den Boulevards.

Unter den Linden in Berlin – die Hausnummer wird nicht verrathen – lebt schon seit vielen Jahren ein königlich preußischer Generalmajor nebst Familie im Ruhestände. Eine ansehnliche Pension und ein hübsches Privatvermögen setzen ihn in den Stand, ein recht angenehmes Haus zu machen, und die jungen Lieutenants von Kaiser Franz und Alexander amüsiren sich „famos“ auf seinen Bällen. Aber so flott sie auch dort tanzen, vor vier Jahren noch – tanzte dort Keiner flotter, als des Generals eigener Sohn. Keiner ritt auch flotter durch den Thiergarten, den Jockei natürlich hinterher, Keiner trank flotter und Keiner – spielte flotter.

In Jefferson County im Territorium Minnesota, einige hundert englische Meilen südwestlich von St. Paul wohnt jetzt unter Indianern und Bären ein Mann, der sich seit vier Jahren nicht mehr rasirt hat und dessen sonstige Erscheinung jedwedem königlichen Constabler zu Aggressiv-Maßregeln Veranlassung geben würde. – Es ist derselbe flotte Vogel, nur die Flügel sind ihm eklig verschnitten. – Armer Vogel!

Als ich das erste Mal zu ihm kam, buk er gerade Plinsen. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf an’s Feuer und schaute ihm dabei zu. Bevor er das in Wasser eingerührte Welschkornmehl[WS 1] in die eiserne Pfanne löffelte, bestrich er diese jedes Mal mit einer alten Speckschwarte, um, wie er meinte, das Anbrennen der Plinse dadurch zu verhindern. Ich bemerkte überdies, daß ich nicht der einzige Zuschauer war. Zwei magere Wolfshunde und eine große schwarze Katze beobachteten jede seiner Bewegungen mit nie ermüdender Aufmerksamkeit. Die Hunde verschlangen jede einzelne Plinse mit den Augen lange ehe sie noch fertig war und die Katze, das Hintertheil eingebogen und die Ohren zurückgelegt, stand wie ein bengalischer Tiger zum Sprunge bereit nach der Speckschwarte. Aber der ci-devant kannte seine Pappenheimer. War ich nicht anwesend, so hätten sie sicherlich nichts erlangt. So aber wollte es das Unglück, daß er sich im Gespräch zu mir wandte, während er sich gerade die Pfeife anzündete, und dabei unbedachtsamer Weise die Hand mit der Speckschwarte etwas zu tief sinken ließ. Im Nu hatte die Katze dieselbe im Rachen und im nächsten Moment rannte sie mit ihrer Beute – mein Landsmann ihr nach – dem nächsten Hickory-Baume zu.

„Die Hunde, um Gottes willen, die Hunde!“ rief er mir noch zu, als er in weiten Sprüngen, zwischen den Baumstümpfen hindurchvoltigirend, den Baum noch vor der Katze zu erreichen strebte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Welschkohlmehl
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_398.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)