Seite:Die Gartenlaube (1858) 402.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

bis zur deutschen Einigkeit zu lang wird. Sie wollen freilich nur die Einigkeit.

Ich überschritt spazierend die Grenze. Ich ging auf der Landstraße weiter. Der Abend war still, er schien auf den Regen zu warten.

Vierzig bis fünfzig Schritte jenseits der Grenze kam ich an ein kleines Gebüsch. Es war ein Vorläufer des Waldes, der bald hinter ihm begann, um sich eine volle halbe Stunde lang an der Landstraße hinzuziehen. Ich wollte an den Bäumen vorbeigehen. Auf einmal hörte ich unter ihnen das Schnauben eines Pferdes.

Zollbeamte, dachte ich, die sich nicht nach der deutschen Einigkeit sehnen, denn sie leben von der deutschen Uneinigkeit.

Ich trat hinter einen Baum an der Landstraße. Er verbarg mich nach dem Gebüsche hin, wo ich das Pferd gehört hatte. Ich bekam auch einmal ein – wenigstens gleichsam – gesetzwidriges Gelüste.

Sie sollen Dich für einen Schmuggler halten; was werden sie wohl thun?

Sie hatten mich wahrscheinlich noch nicht bemerkt. Ich wollte ein verdächtiges Geräusch machen, sie sollten mich überfallen. Aber wie ich ruhig hinter dem Baume stand, und über meinen Plan nachdachte, hörte ich in dem Gebüsche flüstern. Es war in der Gegend, wo das Pferd geschnaubt hatte.

Als ich hinhorchen wollte, war es still. Gleich darauf jedoch hörte ich Fußtritte, die sich mir naheten. Dicht an dem Baume, hinter dem ich stand, trat ein Mensch aus dem Gebüsch auf die Landstraße. Er sah mich nicht, desto genauer mußte ich ihn ansehen. Es schien mir der Fremde zu sein, den ich drüben in dem Wirthshause getroffen, der, als ich des häßlichen Reiters auf dem mageren Pferde erwähnt, unruhig geworden und bald nachher aufgebrochen war. Ich glaubte die schlanke Gestalt, den grauen Ueberrock, die blaue Mütze zu erkennen. In der Dunkelheit konnte ich es nicht mit Sicherheit, aber ich hätte darauf schwören mögen, daß ich mich nicht irrte. Er ging weiter nach Preußen hinein

Ich sah ihm noch nach, als meine Aufmerksamkeit in der entgegengesetzten Richtung in Anspruch genommen wurde.

Aus dem Gebüsch, aus dem der Fremde gekommen, sprengte ein Pferd rasch an mir vorüber, quer über die Landstraße, in ein offenes Bruch, das sich bis an die Grenze zog.

Den Reiter auf dem Pferde konnte ich im Dunkel und in der Geschwindigkeit gar nicht erkennen, aber über das große, magere Pferd blieb mir, als es an mir vorbeiflog, kein Zweifel. Es war das Pferd des häßlichen Menschen, der mich im Walde eingeholt hatte. Sein Reiter mußte also auch jetzt dieser Mensch sein. Er jagte, immer querfeldein, aber in der Richtung der Grenze.

Was hatten die beiden Menschen mit einander gehabt? An dem dunkeln Abende, in dem einsamen Gebüsch, so heimlich, beide von so unheimlichem Aeußern?

Schleichhändler konnten sie nicht wohl sein. Sie hätten dann offen auf dem hannoverschen Gebiete mit einander sprechen können. Aber der Eine, der aus dem Hannoverschen kam, hatte gar nicht einmal gewagt, sich vor den Leuten sehen zu lassen. Er hatte vorhin das Wirthshaus und die Landstraße vermieden, er vermied sie auch jetzt wieder.

Ich kehrte zu dem Wirthshause zurück, und blieb die Nacht dort. Ich hoffte, von der Wirthin noch Manches über meinen neuen Gerichtsbezirk zu erfahren; aber sie wußte nichts. Sie meinte nur, in Hannover sei es am besten. In Preußen machten sie zwar viel Wesens von sich selber, und auf dem Papiere möchten sie auch Alles besser haben; aber das sei auch eben Alles.

Am andern Morgen setzte ich meine Reise fort. Es hatte die Nacht nicht geregnet. Die Wolken hatten sich verzogen, das Wetter war wieder schön, wie am Tage vorher. Ich kam durch meist flache, aber fruchtbare, wohlhabende, angebaute Gegenden. Es war doch auch in Preußen wohl nicht ganz so, wie die hannoversche Wirthin gemeint hatte. Und wenn ich gar an die lüneburger Heide mit den Heideschnucken dachte –!

Aber Eins erfuhr ich doch.

In allen Dörfern, durch die ich kam, klagten die Leute über Zunehmen der Spitzbüberei im Lande. Die Herren am Inquisitoriate in N. möchten recht brave Leute sein, aber mit den Spitzbuben könnten sie nun einmal nicht fertig werden; die seien ihnen zu klug. Wenn die Polizei sie auch nach N. schaffe, nach einigen Wochen oder Monaten kämen sie zurück, ohne daß man ihnen habe etwas beweisen oder anhaben können. Daß dies wahr sein müsse, und woran es lag, sollte ich bald erfahren.

Ich kam des Abends in N. an.

Gleich am andern Morgen übernahm ich mein Amt.

Todte Ruinen sind interessant, oft schön, erhaben. Lebende Ruinen sind traurig, immer nur traurig. So waren meine alten Criminalräthe.

Gewiß brave Leute, auch wahrscheinlich früher tüchtige Criminalisten. Alter, Gewohnheit, Schlendrian hatten sie abgestumpft, verknöchert. Das sah ich gleich. Nur die gewöhnlichsten Sachen konnte ich ihnen überlassen. Alles Andere, Ungewöhnliche, Wichtigere mußte ich für mich, auf mich nehmen. Das sollte alsbald, noch an dem nämlichen Morgen meines Amtsantrittes, beginnen müssen.

Ich hatte kaum meine alten neuen Mitarbeiter kennen gelernt, als der Physikus des Kreises, als solcher zugleich der Gerichtsarzt, sich bei mir melden ließ; er habe mich in einer sehr dringenden Angelegenheit zu sprechen.

Ich empfing ihn sofort.

„Ich komme,“ sagte er, „in einer sehr wichtigen Angelegenheit mir Ihre Ansicht zu erbitten. Der Fleischermeister Mahler hier –“

Ich unterbrach ihn.

„Ich bitte Sie, beachten zu wollen, daß ich seit gestern Abend erst hier bin, daß Personen und Verhältnisse hier mir völlig fremd sind.“

„Ich muß also weiter ausholen. Hier wohnt der Fleischermeister Mahler; er gehört einer der achtbarsten Bürgerfamilien der Stadt an; er selbst ist ein bisher unbescholtener, allgemein geachteter Bürger; so war es bis heute, bis vielleicht vor einer Viertelstunde. Gestern nun ist seine Frau plötzlich erkrankt; heute Nacht ist sie gestorben; auf einmal hat sich heute Morgen in der Stadt das Gerücht verbreitet, Mahler habe seine Frau vergiftet. Das Gerücht ist dem Mahler selbst zu Ohren gekommen. Vor wenigen Augenblicken war er bei mir, mit dem Ersuchen, den Leichnam seiner Frau zu seciren, damit aller Welt klar werde, daß das schlechte Gerede ein falsches sei.“

Ich weiß nicht, wie es kam, mir kam unwillkürlich der Mann aus Preußen in das Gedächtniß, den ich am vorgestrigen Abende in dem Wirthshause an der hannoverschen Grenze und wahrscheinlich in dem heimlichen Gespräche mit dem unheimlichen Reiter getroffen hatte.

„Ich bin zweifelhaft,“ fuhr der Arzt fort, „wie ich diesem Ersuchen gegenüber mich zu benehmen habe.“

„Sie denken an die Feststellung des objectiven Thatbestandes?“ fragte ich.

„So ist es.“

Der Arzt war ein eben so verständiger als vorsichtiger Mann. Seine Zweifel und Bedenken waren die begründetsten.

Er sollte die Section der Leiche für seine Person allein, als keine amtliche, sondern als eine ärztliche Privathandlung vornehmen. Dennoch handelte es sich hier um ein Verbrechen, gar um ein Capitalverbrechen, dessen Existenz oder Nichtexistenz zunächst gerade durch die Section festgestellt werden sollte.

Damals galt die preußische Criminalordnung noch in ihrem vollen Umfange. Diese schrieb aber klar und bestimmt vor, daß eine Leichenöffnung zum Zweck der Feststellung des Thatbestandes einer Tödtung nur amtlich und zwar gerichtlich geschehen solle. Sie sollte unter Direction eines Richters mit Zuziehung eines Gerichtsactuarius von zwei Gerichtsärzten, dem Kreisphysikus und dem Kreischirurgus, vorgenommen und der ganze Hergang dabei sollte Schritt für Schritt, Punkt für Punkt zum gerichtlichen Protokolle verzeichnet werden. Außerdem mußte vor der Section die Leiche den Angehörigen, dem etwaigen Angeschuldigten oder Verdächtigen, oder anderen Personen, die sie kannten, vom Richter zur Anerkennung der Identität vorgezeigt werden. Fehlte an diesen durch das Gesetz vorgeschriebenen Erfordernissen etwas, so konnte, nach einer durch constante Praxis der Gerichte feststehenden Auslegung des Gesetzes, niemals auf die volle gesetzliche Strafe des Verbrechens erkannt werden, es fand vielmehr immer nur eine geringere, außerordentliche Strafe statt, wenn auch im Uebrigen der Beweis des Verbrechens auf das Klarste und Vollständigste hergestellt war. Es wurde stets angenommen, der objective Thatbestand, der Beweis, daß die Handlung des Thäters den Tod zur Folge gehabt habe,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_402.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)