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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

könne nach der Absicht des Gesetzes vollständig, zur Anwendung der vollen Strafe, nur durch jene gerichtliche, mit allen genannten Erfordernissen versehene Leichenöffnung erbracht werden.

Die Folge für den vorliegenden Fall war klar. Nahm der Kreisphysikus die von ihm verlangte Privat-Handlung vor, und er fand wirklich Spuren oder selbst den klarsten Beweis einer stattgehabten Vergiftung, so war dennoch schon von vornherein dem ganzen weiteren Verfahren die Spitze abgebrochen; den Verbrecher konnte nie mehr die volle Strafe des Gesetzes treffen. Eine Leichenöffnung unter jenen Formalitäten ließ sich nicht reproduciren.

Aber woher denn Bedenken? fragt vielleicht mancher Leser von entschiedenem Charakter. Warum nicht sofort die gerichtliche Leichenöffnung mit allen jenen Formalitäten vorgenommen?

Allein, meine lieben, entschiedenen Leser, das ging nicht so ohne Weiteres.

Die preußische Criminalordnung war eins der besten Gesetze in Deutschland; ich scheue mich nicht, es auszusprechen, für ihre Zeit das beste deutsche Criminalgesetz, und mir auch jetzt noch lieber, als alle Criminalproceßordnungen, deren in neuester Zeit so viele in Deutschland mit und ohne Kammern berathen und erlassen sind. Sie hatte namentlich auch strenge Vorschriften zum Schutze des unbescholtenen Bürgers gegen unbegründete Anklagen und Verfolgungen. Und insbesondere verordnete sie, daß kein Act einer gerichtlichen Untersuchung vorgenommen werden solle, wenn nicht ein begründeter Verdacht vorhanden sei, daß wirklich ein Verbrechen begangen worden.

War hier ein solcher Verdacht nur irgendwie begründet?

Es lag nichts vor, als daß sich in der Stadt das Gerücht verbreitet hatte, Mahler habe seine Frau vergiftet.

„Worauf stützt sich das Gerücht?“ fragte ich den Arzt.

Er wußte es nicht, er hatte es nur von Mahler selbst gehört; dieser von seinem Schwager, dem Bruder der Verstorbenen.

„Was halten Sie von dem Gerede?“

„Ich habe kein Urtheil darüber. Ein Arzt war bei der Kranken nicht gewesen.“

„Erscheint das nicht auffallend?“

„Kaum. Die geringeren und die mittleren Classen helfen sich hier noch vielfach mit Hausmitteln.“

„Aber wenn der Tod kommt?“

„Sie wissen auch ohne den Arzt zu sterben. Zudem behauptet Mahler, er habe nach einem Arzte schicken wollen, seine Frau habe es verboten.“

„Sie halten das für glaubwürdig?“

„Die Frau war als geizig in der Stadt bekannt.“

„Hat Mahler Ihnen über Krankheit und Tod seiner Frau Mittheilungen gemacht?“

„Sie hat an Erbrechen gelitten. Er war vorgestern verreist gewesen –“

„Vorgestern?“ mußte ich ihn unwillkürlich lebhaft unterbrechen.

Der Arzt sah mich über meine lebhafte Unterbrechung verwundert an.

„Darf ich bitten, fortzufahren?“

Er fuhr fort:

„Bei seiner Rückkehr fand er sie schon krank, schon sehr schwach; er wollte sofort zum Arzte schicken, aber sie verbot es. Später ließ sie sich Rhabarber aus der Apotheke holen. Als sie den eingenommen, war es jedoch schlimmer mit ihr geworden.“

„Das Alles erzählt Mahler selbst?“

„Daß sie Rhabarber hatte holen lassen, hatte ich schon in der Apotheke gehört; und daß durch dessen Genuß ihr Zustand sich verschlimmern mußte, ist wahrscheinlich; denn ich habe die Frau gekannt, sie war schwächlich, schon lange leidend.“

„Wann ist sie gestorben?“

„Heute Nacht. Mahler hatte gestern seinem Geschäfte nachgehen müssen: er war nur wenig zu Hause gewesen. Um acht Uhr gestern Abend hatte er nochmals ausgehen müssen. Als er sie verlassen, war sie ruhig gewesen, auch dem Anscheine nach wohler. Um elf Uhr des Nachts war er zurückgekehrt Unterdeß hatte sich aber ihr Zustand wieder bedeutend verschlimmert; sie lag in den letzten Zügen und eine halbe Stunde darauf war sie schon todt.“

„Sie haben die Todte gesehen?“

„Ja.“

„Und?“

„Nach dem Mitgetheilten könnte sie, wenn vergiftet, nur in Folge einer Arsenikvergiftung gestorben sein; deren Spuren sind an dem Aeußeren der Leiche nicht zu entdecken.“

„Aber die Ausleerungen?“

„Man konnte sie mir nicht mehr vorzeigen; sie waren fortgeschafft.“

„Welche Hausgenossen hat Mahler?“

„Die Frau war geizig. Sie hatten nur ein Mädchen von dreizehn Jahren als Dienstmädchen; außerdem hatte Mahler bei seiner Rückkehr gestern eine Nichte der Verstorbenen mitgebracht.“

„Eine Nichte? Ein hübsches, junges Mädchen?“

„Sie kennen sie?“

„Ich weiß es nicht. Lassen Sie uns fortfahren. War außerdem Niemand um die Kranke gewesen?“

„Eine Nachbarin, die Wittwe Kühl, ist gestern fast den ganzen Tag im Hause gewesen, um der Kranken Handreichungen zu leisten; sie war auch bei ihrem Tode da.“

„In welchem Rufe steht die Frau?“

„Im besten.“

„Sie haben sie gesprochen?“

„Sie war vorhin bei der Leiche, als Mahler mich zu dieser führte.“

„Und?“

„Sie erzählte mir über die Krankheit, aber nichts weiter Verdächtiges. Sie bestätigte nur die Angaben Mahlers.“

„Ist jene Nichte der Frau Mahler hier bekannt?“

„Sie war schon früher im Mahler’schen Hause.“

„Und warum hatte sie dieses verlassen?“

„Ich weiß es nicht.“

„In welchem Rufe steht sie?“

„Ich habe nie etwas von ihr gehört.“

„Und Mahler selbst steht in gutem Rufe?“

„Bis heute vollkommen.“

„Und Sie wissen keinen Grund, so wie keine Quelle jenes Gerüchtes der Vergiftung?“

„Keinen.“

Wir waren mit den Thatsachen zu Ende.

Was war zu machen? Es mußte eine schnelle Entscheidung getroffen, ein sofortiger Entschluß gefaßt werden.

Ueberließ ich dem Arzte allein die Section als eine Privathandlung – und nur das war sie ohne eines jener Erfordernisse unter allen Umständen, so trug ich die Schuld, wenn ein wirklich verübtes Verbrechen der verdienten gesetzlichen Strafe entging. Als Dirigent des Criminalgerichts machte ich mich doppelt verantwortlich. Der verwahrloste Gerichtsbezirk war durch den neuen Director aus dem Regen in die Traufe gekommen.

Andererseits hatte ich zu einem amtlichen Einschreiten durchaus keine gesetzliche Befugniß. Nichts sprach für das Vorhandensein eines Verbrechens. Jeder directe Schritt, den ich that, war ein ungesetzlicher Angriff, zudem gegen einen Mann und eine Familie, deren Ruf ein völlig unbescholtener, bisher vollkommen unangerührter war. Wollte ich auch nur unter dem Scheine eines unbefangenen oder neu- oder wißbegierigen Zuschauers, dem Acte der Section beiwohnen, in der kleinen Landstadt hätte sich auf der Stelle das Gerücht eines gerichtlichen Vorgehens gegen den Fleischer Mahler wegen Vergiftung seiner Frau verbreitet, und wenn dann auch der Arzt erklärt hätte, er habe kein Gift gefunden – es bleibt immer etwas haften; ein Mensch, gegen den das Criminalgericht einmal verfahren hat, gar wegen heimlichen und daher doppelt verabscheuten und doppelt geglaubten Verbrechens der Vergiftung, ist für die Masse stets ein Gegenstand des Mißtrauens, des Verdachtes. Das Gewerbe des Mannes forderte zudem eine besondere Schonung seiner Ehre gegenüber dem Publicum.

Ich durfte nicht einschreiten; ich mußte es auf jene erste Alternative ankommen lassen. Indeß traf ich mit dem Kreisphysikus die Verabredung einer Art von Mittelweg.

Ich hätte noch einen andern Ausweg haben können; ich konnte auf die Entscheidung des Gerichtscollegiums provociren. Ich konnte, ich mußte nicht. That ich es, so war ich von wenigstens rechtlicher Verantwortlichkeit frei. Aber ich wollte mich lieber aller Verantwortlichkeit unterwerfen, als gleich zu Anfang meiner amtlichen Wirksamkeit mich von einer Majorität abhängig machen, unter deren Einfluß die Strafrechtspflege in dem Gerichtsbezirke eine verwahrloste geworden war. Ich hatte schon die besseren Gerichtscollegien kennen gelernt!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_403.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)