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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)


„Ich verstehe Dich nicht und entsinne mich auch nicht.“

„Nun, Du hast doch sonst ein Riesengedächtniß, womit Du uns Allen gelegentlich aushilfst. Besinne Dich: habe ich Dir nicht schon vor ein paar Wochen das neue Buch über den badischen Aufstand und Feldzug gegeben und Dich gebeten, mir Dein Urtheil zu sagen, ob es der Mühe Werth ist, es zu lesen?“

„Ja so, allerdings – ich habe das Zeug über den badischen Jammer durchgeblättert –“

„Nun, heraus mit der Sprache, her mit Deinem Urtheil.“

Mir wurde unheimlich zu Muthe und aus Besorgniß, vielleicht Aeußerungen hören zu müssen, die mir wehe thun würden, fiel ich mit den Worten in die Rede:

„Vor allen weiteren Erörterungen glaube ich hier daran erinnern zu dürfen, daß ich Badenser bin und der Bruder jenes unglücklichen Commandanten von Rastatt, der von preußischen Kugeln gefallen ist.“

„Ja, Donnerwetter!“ rief der General v. K. „Ich habe die gegenseitige Vorstellung vergessen. Also: Herr General von Radowitz, – Herr Baron von Biedenfeld!“

Hundert Mal hatte ich eine Bekanntschaft mit diesem interessanten Freunde des Königs gewünscht und jetzt, da sie mir so nahe geboten war, stand ich in der Ueberraschung ihm verlegen gegenüber und starrte ihm fast unartig in’s Gesicht. Auch er betrachtete mich einen Augenblick starr, dann flog es plötzlich wie ein Hauch von Mitleiden verklärend über seine Züge, mit herzgewinnendem Blick eilte er zu mir herüber, faßte meine Hand zwischen seine beiden Hände, sah mir mit unbeschreiblicher Wehmuth Auge in Auge und sprach mit bebender Stimme des innigsten Gefühles:

„Ich habe die Minerva gelesen, ich habe alle Ihre Schmerzen mitgefühlt und alle die schweren Kämpfe mit durchgerungen, welche Ihre Seele zu bestehen hatte, bevor jene Biographie des Bruders fertig auf dem Papiere stehen konnte. Herzlichst freut es mich hiernach, Ihre persönliche Bekanntschaft gemacht zu haben, und hoffentlich sehen wir uns recht oft wieder.“

Und als wäre er froh, über die badische Geschichte schnell hinwegzukommen und die Anregung des Mitgefühls los zu werden, wendete er sich rasch an das Fräulein, ließ meine Hand mit einem Druck frei und sagte in der heitersten Laune:

„Nun, mein schönes Fräulein, haben Sie endlich Ihren Rosenmann; hoffentlich verfahren Sie mit ihm gnädiger, als mit Ihren Freunden. – Aber Sie, Herr Baron, warne ich von vornherein, unserer künftigen Jungfrau von Orleans ja nicht etwa zu glauben, wenn sie viel Schönes über das Rosenbuch sagen sollte, denn sie hat in der That nur die Beigaben, die Gedichte und besonders die Fleurette gelesen.“

Mit einer leichten graziösen Verbeugung trat er einen Schritt zurück, kreuzte die Hände auf dem Rücken, stellte sich breit in die Positur eines eifrigen Zuhörers, seine Stirn, dieser Thron des Verstandes und des raschen, entschiedenen Urtheils, war offen und heiter, sein Blick lauschte erwartungsvoll, um seinen Mund spielten Sarkasmen. Nach den gewöhnlichen zierlichen Eingangsphrasen bemerkte Emilie:

„Es ist doch sonderbar, daß die Phantasie der Leser sich gewöhnlich ganz andere Bilder von den Schriftstellern vorspiegelt. So habe auch ich in Ihnen mir etwas ganz Anderes gedacht –“

„Natürlich,“ fiel Radowitz ein, „die edle Jungfrau dachte sich irgend einen Mauerbrecher von Dunois oder einen herzenerstürmenden Lionel und verwundert sich nun, eine Art von Duchatel zu finden, dem die heilige Liebe zum Vaterland keine Zeit mehr zum Courschneiden läßt …“

Wir saßen wieder und auch Radowitz hatte seinen Schaukelplatz in der Ecke aufgegeben und an dem runden Tische Platz genommen. Die Hausfrau bereitete den Thee und Emilie zierliche Butterschnittchen. Die Conversation wogte von Gegenstand zu Gegenstand hin und her. General K. kam wiederholt auf sein Buch über Baden zurück, aber mit feinstem Takte glitt Radowitz stets darüber hinweg und wußte stets unmerklich wieder Anderes auf das Tapet zu bringen, neckte die Hausfrau, weil das Theewasser nicht kochen wollte, und Emilien wegen der unsäglichen Mühe unsichtbare Butterschnittchen zu Stande zu bringen, den Bruder General, weil er die Parade versäumt habe, um eine schöne Portion Hühner zu fehlen, mich wegen meiner Geschichte der Mönchs- und Nonnenorden, woran ich ein paar Lebensjahre gesetzt habe, nur um mit einer solchen General-Uebersicht andern Historikern eine bequeme Eselsbrücke zu bauen und à la Talleyrand seligen Andenkens die Sprache zu gebrauchen, um meine Gedanken über mancherlei Dinge zu verstecken. Meine Geschichte der Ritterorden habe er, ähnlichen Erscheinungen analog, für einen Sehnsuchtswalzer nach einigen Ordensbändchen gehalten, bis er nach Durchlesung der Vorrede von solcher Sehnsucht mich habe freisprechen müssen. Mit meinem Buch der Rosen habe er sich den Magen nicht verderben wollen, weil er eine Menge demagogischer Stacheln und Dornen darin vermuthet, indem so viele demagogische Herren und Damen (mit einem Seitenblick auf Emilie) ihm so emphatisch Lob gespendet. Er war prächtig im Zuge und trug die Kosten der Conversation fast allein.

Wir kamen, ich weiß selbst nicht wie, im Verfolg dieses Herumhüpfens durch allerlei Lappalien, unversehens in die ernsteren Gebiete von Abbé Chatel, Ronge, Röhr, Bretschneider, Hengstenberg etc. Da floß kein Scherz mehr über seine Lippen, seine ganze Physiognomie hatte ein anderes Gepräge angenommen, seine Stirn erschien mir höher, glätter, glänzender, seine Blicke wurden eindringlicher, stechender, während sein Auge oft so seltsam verdüstert in die Welt hinaussah, wie die Sonne, wenn sie hinter einem Schleier von Wolken blutroth erscheint. Der Mann war wieder ernst geworden, er sprach weniger, aber um so entschiedener. In solchen Momenten beherrschte indessen offenbar seine stets leicht aufregbare Phantasie den sonst so klaren und prägnanten Verstand, und riß ihn häufig zu kategorischen Urtheilen hin, welche mit seiner eigentlichen Ansicht der Dinge und mit seinen Schriften nicht wohl in Einklang zu bringen sind, mitunter ihnen geradezu widersprechen. Dergleichen hat Manchen über den Geist, das Wollen und Streben dieses merkwürdigen Mannes irre gemacht, und ihm manche schiefe Beurtheilung zugezogen.

Emilie äußerte in einem Anfall von Unmuth:

„Diese Reformation ist das größte Unglück, welches jemals über uns verhängt worden; seit jener Zeit hat Deutschland aufgehört, Deutschland zu sein –“

„Sie irren, mein Fräulein,“ fiel er mit didaktischem Ernste ein, „Sie irren nicht nur, sondern Sie lästern geradezu die Vorsehung. Diese Reformation ist die mächtigste und furchtbarste providentielle Erscheinung des letzten Jahrtausends. Mag sie immerhin Deutschlands politische Kraft für geraume Zeit gebrochen, die äußere und innere Einheit zerrissen haben, so hat sie doch Deutschland erst zum eigentlichen Hebel und Mittelpunkt, zum providentiellen Ferment der allmählichen Civilisation der ganzen Welt erhoben, was auch dagegen Franzmanns Eitelkeit und Englands Stolz einwenden möge. Der durch die edeln Söhne St. Benedicts von Nursia aus den Trümmern der Barbarei geretteten Wissenschaft und Literatur der alten Welt wurde durch die Reformation ein neues fruchtbares Leben verliehen, ihr allein verdanken sie alle Tiefe, Hoheit und Würde, und ohne sie wären ein Lessing, ein Goethe und Ihr Schiller unmöglich, nein undenkbar. Sogar die Kirche, die Religion –“

Da verstummte er plötzlich, als wäre er über sich selbst erschrocken, bedeckte mit der flachen Hand Stirn und Augen, fuhr dann langsam über das Gesicht herab, starrte einen Moment seine Theetasse an, erhob dann den Blick weit geöffnet, und fuhr fast im Ton eines Träumenden fort:

„Nun ja, auch die Kirche, durch die verhängnißreiche Appellation an die Vernunft blutig in zwei Kirchen zerrissen, hat sich zu Gedanken und Prüfungen erhoben, wozu sie niemals gelangt sein würde, wenn sie nur eine Kirche geblieben wäre. Und dieses häufig so heillos mißverstandene und falsch gedeutete „prüfet Alles“ wird am Ende der Prüfungen zu der allgemeinen Ueberzeugung führen, daß nur eine wahrhaft christliche Kirche möglich ist, und die zwei Kirchen werden wieder in eine Kirche zusammenfließen. Wann? Das weiß nur der, der Alles weise und gnädig lenkt – –“

Offenbar hatte er nicht Alles ausgesprochen, was er dachte und fühlte; aber ich hielt es für unbescheiden, ihm Weiteres zu entlocken, durch Widerspruch ihn zur vollen Offenheit zu reizen. Die Uhr erinnerte uns, daß es Zeit zur Trennung geworden.

Oft habe ich diesen merkwürdigen Mann besucht, oft dabei des „Generals Chamäleon“ von Fräulein Emilie mich lebhaft erinnert, aber stets schied ich von ihm mit höherer Achtung und Liebe.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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