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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

„Wer blieb dann bei der Kranken?“

„Ich“

„Sie allein?“

„Ich allein.“

„Genoß Ihre Tante in ihrer Krankheit etwas?“

„Das Rhabarberpulver.“

„Wer reichte es ihr?“

„Der Oheim. Aber er hatte es mir gegeben, um es einzurühren.“

„Das hatten Sie gethan?“

„Ja.“

„Haben Sie gesehen, wie Ihr Oheim der Tante das Pulver gab und sie es einnahm?“

„Nein. Ich war unterdeß mit dem Dienstmädchen beschäftigt, die Stube zu reinigen.“

„Warum hatte Ihr Oheim Ihnen die Zubereitung des Pulvers übertragen?“

„Das weiß ich nicht. Er bat mich darum; ich hatte gerade nichts zu thun.“

„Was genoß Ihre Tante mehr?“

„Soviel ich weiß, nur des Mittags etwas Suppe und des Abends eine Tasse Kaffee.“

„Wer gab ihr die Suppe?“

„Der Oheim.“

„Und den Kaffee?“

„Auch der Oheim. Aber ich hatte ihn einschenken und Milch hinzugießen müssen.“

„Trank sie ihn mit Zucker?“

„Den that der Oheim hinein.“

„Sahen Sie das?“

„Ich sah, wie er ein Stück aus der Zuckerschale nahm, die auf dem Tische stand.“

„Und dann?“

„Er muß es in die Tasse geworfen haben; gesehen habe ich es nicht. Aber wo sollte er es gelassen haben? Ich sah ihn auch mit dem Löffel in der Tasse rühren. Dann reichte er sie ihr und sie trank.“

„That der Genuß der Suppe und des Kaffee ihr wohl?“

„Sie konnte Beides nicht bei sich behalten und mußte sich immer von Neuem danach erbrechen.“

Ich war mit meinen Fragen zu Ende und mit mir im Klaren. Sie war nicht die Mörderin; jede ihrer Mimen vom Anfange des Verhörs bis zum Ende bewies es mir; jedes Wort, jedes Zugeständniß, bis zu dem letzten, der offenen, freiwilligen Erklärung, daß sie das Pulver eingerührt, den Kaffee und die Milch eingeschenkt habe.

Ich hatte nicht einmal mehr die Wahl zwischen Unschuld und vollendeter Heuchelei. So konnte, nach meinem Dafürhalten, auch die vollendetste Heuchlerin sich nicht benehmen.

Dennoch mußte ich ihr vorhalten, was ihr Oheim gegen sie insinuirt, denuncirt hatte; auf meine Physiognomik allein durfte ich mich nicht verlassen; sie konnte trotzdem schuldig sein. Nichts mehr als jener plötzliche, unerwartete Vorhalt, in einem Augenblicke, in dem sie die völlig Unschuldige, Sichere spielte, sich für völlig sicher hielt, konnte, wenn sie schuldig war, geeignet sein, zum Verräther ihrer Schuld zu werden.

„Ihre Tante,“ hob ich an, zwar etwas langsamer sprechend, als bisher, aber ohne besonderen Nachdruck und ohne sie irgend scharf zu fixiren; nur nachdem ich geendigt hatte, ließ ich mein Auge fest und durchdringend auf ihr ruhen; „Ihre Tante ist an Gift gestorben und Ihr Oheim gibt an, daß Sie sie vergiftet hätten.“

Die ruhig gesprochenen Worte machten in der That einen überraschenden Eindruck auf sie. Sie zuckte heftig auf; dann zitterte ihr ganzer Körper; aus ihrem Gesichte war alles Blut getreten; ihre Lippen waren blau geworden; ihre Augen starrten mich an. Sie wollte sprechen und vermochte es nicht; sie war in einem entsetzlichen Zustande. Ich fürchtete einen Schlag-, einen Krampfanfall. Aber sie konnte sich aufrecht halten.

Die Veränderung war plötzlich, mit unglaublicher Schnelligkeit erfolgt. Sie versetzte mich in Besorgniß; ich machte mir Vorwürfe, daß ich einen so heftigen, ich mußte mir sagen, so rohen Angriff auf das jugendliche Geschöpf gemacht hatte; ich hätte für meinen Zweck milder verfahren können.

Sie erholte sich nur sehr langsam. Als das convulsivische Zittern aufgehört hatte, bekam sie die Sprache wieder.

„Das ist abscheulich!“ rief sie. „Mein eigener Oheim!“

Weiter sagte sie nichts; aber ein Strom von Thränen folgte ihren Worten. Sie war unschuldig; sie hatte auch die letzte Probe bestanden.

Zeigte mir jene plötzliche, furchtbare Veränderung auch die Heftigkeit ihres Charakters an, von der auch ihr Oheim Kopp gesprochen hatte, eine Mörderin war sie nicht; gerade diese Heftigkeit legte Bürgschaft dafür ein. Ich ließ sie sich setzen, sich völlig erholen und ausruhen. Sie saß noch eine halbe Minute stumm; dann sah sie mit ihren dunklen Augen mich bittend, ängstlich bittend an.

„Sie haben ihm doch nicht geglaubt?“ fragte sie.

Die Frage war so unschuldig, so kindlich unschuldig. Wäre ich nicht ihr Inquirent gewesen, ich hätte sie an mein Herz drücken und ihr zurufen mögen: Nein, Du gutes, unschuldiges, schändlich verleumdetes Kind; aber Dir glaube ich. – Aber ich mußte der kalte, ruhige, vorsichtige Criminalrichter bleiben.

„Ich glaube nur den Beweisen, die mir gebracht werden,“ erwiderte ich ihr.

Sie athmete leichter. Sie sagte nichts darauf; aber sie sah mit einer stillen Befriedigung vor sich hin, als wenn sie sagen wollte: Was ich nicht gethan habe, wie wollte man das beweisen können?

Ich richtete noch ein paar Fragen an sie.

„Wußten Sie, daß Ihre Tante vergiftet ist?“

„Ich erfuhr es von den Nachbarn, als ich heute Abend nach Hause zurückkehrte.“

„Hatten Sie Verdacht auf Jemanden?“

„Ich habe an keinen Menschen in der Welt denken können.“

„Auch jetzt nicht?“

„Nein, auch jetzt nicht.“

„Auch nicht an ihren Oheim?“

Sie erschrak bei dieser Frage. Sie sann ein paar Secunden nach; dann sagte sie hastig, heftig abwehrend:

„Nein, nein!“

„Sie haben mir nichts weiter zu sagen?“

„Nein. Aber halten Sie auch nicht meinen Oheim für den Thäter.“

„Sie können gehen,“ sagte ich zu ihr.

„Nach Hause?“ fragte sie in einem Tone, als wenn sie einen, allerdings nur leichten Zweifel habe.

„Nach Hause.“

Sie ging. Sie war nicht überrascht, verwundert, denn sie ging ruhig. Aber desto überraschter und verwunderter sah mich der Criminalactuarius an, der mir das Protokoll führte.

Ich muß hier einige Worte über ihn sagen. Er war ein Mann in den mittleren Jahren, mit einem intelligenten Gesichte. Ich hatte ihn in den wenigen Stunden, die ich ihn kannte, zu erkennen geglaubt, und ich überzeugte mich später bald, daß ich mich nicht in ihm geirrt hatte. Er gehörte zu jenen klaren und praktischen Menschen, die zu ihrem Glücke nicht, wie der große Haufe, studirt, also ihren klaren Verstand und praktischen Sinn nicht durch gelehrte Brocken beeinträchtigt haben. Er hatte aber auch andererseits, indem er gar nicht studirt hatte, seinen Geist und Sinn durch das Aufnehmen der wahren Wissenschaft in sich nicht läutern, nicht auf eine höhere Stufe erheben können. So hatte er zwar stets eine richtige Einsicht in die Bestimmungen des Gesetzes und in die Bedürfnisse der Praxis. Aber beides nur für gewöhnliche Fälle. Ungewöhnliche Ereignisse lagen außerhalb seines Verständnisses des Gesetzes wie des Herkommens, des Gebrauches, der Praxis. Durch seine Stellung unter Vorgesetzten, denen er geistig so sehr überlegen war, hatte zudem sein Urtheil für ihn selbst, wenn auch nicht die Eigenschaft der Untrüglichkeit, doch die der Richtigen, bis man ihm überzeugend das Gegentheil beweisen werde, gewonnen. Er war dabei zu klug und zu sehr Mitglied der preußischen Bureaukratie, um jemals anmaßend oder nur im geringsten beschwerlich zu werden.

Er sah mich verwundert an, und sagte nichts. Aber ich las in seinen Augen deutlich: Was ist denn das? Diese Person läßt er ohne Weiteres gehen, läßt er frei, die geradezu des Verbrechens bezichtigt ist, bei deren Eintreten in das Haus plötzlich Gift in dem Hause war, die den Tod mitbrachte, unter deren Augen das Gift genossen sein muß, die sogar nach ihrem eigenen Geständnisse zweimal

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 427. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_427.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)