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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

aber sehr leise. Eben so leise war er hindurch auf die Straße gestiegen. Er hatte dann das Fenster angelehnt und war nun mit raschen, fast unhörbaren Schritten, immer dicht an den Häusern entlang, die Straße hinaufgegangen, in der Richtung nach dem Schmid’schen Hause.

Der Beamte, der ihn soweit beobachtet, hatte den zweiten, an der Rückseite des Hauses aufgestellten Wächter herbeigerufen. Beide hatten auf verschiedenen Wegen gleichfalls die Richtung nach dem Schmid’schen Hause eingeschlagen; der erste, indem er Mahler von Weitem folgte.

Das Schmid’sche Haus lag am Stadtwalle, am äußersten Ende einer nur mit wenigen, zerstreuten Häusern besetzten Straße. Es lag dort einsam, nach allen Seiten frei.

In diesem Hause hatte schon bei der Ankunft der dahin beschiedenen Wächter eine heimliche, geheimnißvolle Unruhe geherrscht. Die Fensterladen waren fest verschlossen gewesen, aber die Hausthür hatte sich zum Oefteren geräuschlos geöffnet und es war eine Frauensperson darin erschienen, die auch wohl einige Schritte, wie um nach Jemandem auszusehen, auf die Straße getreten war. Bald hatte auch der Schornstein geraucht und aus dem Hause hatte sich ein Geruch von Braten und Backen verbreitet. Man erwartete im Hause Jemanden. Der Erwartete erschien endlich. Die Frauensperson stand wieder in der Thür. Es war die Louise Schmid. Der Angekommene war der Fleischer Mahler.

„Kommst Du doch?“ rief das Mädchen.

Sie rief es mit nur wenig gedämpfter Stimme. Häuser waren nicht in der Nähe und Menschen vermuthete sie hier auch nicht.

„Kommst Du doch noch? Sie haben Dich also frei lassen müssen?“

„Jetzt bist Du die Frau Mahler!“ war die Erwiderung des Fleischers.

Beide umarmten sich. Dann fragte das Mädchen:

„Was haben sie Dir gesagt?“

„Was wollten sie mir sagen? Sie hatten mir eben nichts zu sagen.“

„Von uns hatten sie nichts erfahren.“

„Das wußte ich wohl.“

„Dennoch hatte meine Mutter Angst; aber ich blieb dabei, daß sie Dich noch in der Nacht loslassen müßten und daß Du zu mir kommen würdest. Laß uns jetzt in’s Haus gehen.“

Sie gingen dem Hause zu. Unterwegs mußte der Mann dem Mädchen etwas zum Tragen übergeben haben.

„Was ist es?“ fragte sie.

„Ich habe zwei Flaschen Wein mitgebracht.“

Sie verschwanden im Hause und machten die Thür fest hinter sich zu. Was drinnen geschehen war, hatten die Beamten durch die dicht verschlossenen Laden nicht wahrnehmen können. Nur einmal hatten sie gemeint, Gläserklirren zu vernehmen.

Mahler war bis gegen drei Uhr Morgens in dem Hause geblieben. Als er sich entfernt, hatte ihn das Mädchen bis mitten auf die Straße begleitet, und Beide hatten dann dort durch eine lange Umarmung Abschied von einander genommen. Das berichteten mir die Beamten.

Es verschaffte mir eine große Genugthuung. Mein Verfahren hatte sich, wenn auch aller Regel, allem Herkommen und allen Vorschriften der Criminalordnung zuwider, als ein richtiges, zweckmäßiges erwiesen. Was sind alle Regeln und Gesetze gegenüber dem Rechte und der Eigenthümlichkeit des einzelnen Falles? Jene sind todt, dieser allein ist lebendig; und nur das Lebende hat Recht.

Ich hatte auf einmal einen Anhalt für die Untersuchung, ein Licht in dem Dunkel des empörenden Verbrechens gewonnen, wie ich sie auf dem gewöhnlichen Wege der Vorschriften und des Hergebrachten wahrscheinlich gar nicht, jedenfalls nicht in solchem Umfange und nur mit vieler Mühe und nach langer Zeit würde erhalten haben.

Ich sandte auf der Stelle alle vier Beamten mit dem Befehle zurück, sofort den Fleischermeister Mahler, die Eheleute Schmid und deren Tochter Louise zu verhaften und in die Gefängnisse des Inquisitoriats abzuliefern. Mahler sollte nichts von der Verhaftung der Schmid’s, diese sollten nichts von der Mahler’s erfahren. Ueber das mir Mitgetheilte empfahl ich den Beamten das tiefste Stillschweigen gegen Jedermann an.

Ich wollte zugleich einen kleinen Triumph der Eitelkeit haben.

Ich begab mich auf das Inquisitoriat und ließ den Actuarius herüberbitten, um mir das Protokoll führen zu lassen. Er kam alsbald.

Ich dictirte ihm zunächst einfach die Berichte der vier Beamten Wort für Wort zu Protokoll. Die Ueberraschung, das Erstaunen des Mannes waren in der That groß; aber er war ein braver Mann, er freute sich über das gewonnene Resultat.

Wir sind doch nicht aus dem Regen unter die Traufe gekommen, sprachen seine Augen. Laut sagte er:

„Gott sei Dank, jetzt wird hier Vieles anders werden.“

Aber das gewonnene Resultat war nur ein vorläufiges und es war noch Manches zu thun, um zu jenem Ziele zu gelangen, an welchem erst der zu einer Verurtheilung der Schuldigen erforderliche Beweis hergestellt war.

Die vier Personen waren verhaftet, ganz, wie ich es angeordnet hatte. Sie hatten sich am gestrigen Abende, noch heute Nacht so sicher gewußt. Sie mußten sofort, unter dem ersten überraschenden, ängstigenden Eindrucke ihrer Verhaftung vernommen werden; ihre Vernehmung mußte schnell, ohne Umschweife auf ihr Ziel losgehen.

Ich ließ zuerst Mahler vorführen. Er zeigte keine Spur von Angst oder Unruhe.

„Wann haben Sie die Louise Schmid zum letzten Male gesehen?“ begann ich.

„Ich weiß es nicht genau; es können vierzehn Tage bis drei Wochen sein.“

„Wo?“

„Auf der Straße.“

„Wo waren Sie heute Nacht?“

„In meinem Hause.“

„Die ganze Nacht?“

„Die ganze Nacht.“

„Sie waren gar nicht ausgegangen?“

Er besann sich doch; sein Blick zeigte eine leise Unruhe; aber nach einer Weile antwortete er dreist:

„Nein.“

„Gefangenwärter, führen Sie den Gefangenen in das Gefängniß zurück.“

Da wurde er sehr unruhig; diese kalte Kürze hatte sich wie eine Last auf ihn gewälzt, die ihm den Athem nahm. Er blieb stehen und sah mich fragend an, als wenn ich in meinem Schweigen sein Verderben bei mir trüge, das er von mir heraushaben müsse, als wenn er lieber dem Tode in das Gesicht sehen, als ihn lauernd hinter sich wissen wolle.

„Haben Sie mir noch etwas zu sagen?“ fragte ich ihn.

Er fühlte, daß er sich verrathen habe, und nahm sich zusammen.

„Nein!“

Er ging mit dem Gefangenwärter.

Louise Schmid mußte eintreten. Sie hatte nichts von ihrem sanften Wesen verloren; ein Ausdruck stillen Leidens war hinzugetreten. Wäre ich zum Scherzen aufgelegt gewesen, ich hätte sie mit einer sanft leidenden Katze vergleichen können.

„Wann haben Sie den Fleischer Mahler zuletzt gesehen?“

„Vor zwei oder drei Wochen etwa.“

„Wo?“

„Auf der Straße.“

„War er nicht gestern Abend bei Ihnen?“

„Ich war ja fast bis Mitternacht hier am Gerichte.“

„Aber nachher? Heute Nacht?“

„Ich habe ihn nicht gesehen.“

„Und doch war er bei Ihnen.“

„Er war nicht bei mir.“

„In Ihrem Hause.“

„Wer Ihnen das gesagt hat, der hat mich verleumdet.“

„Sie waren ihm bis auf die Straße entgegen gegangen.“

„Großer Gott, welche abscheuliche Verleumdung!“

„Er sagte Ihnen: jetzt seien Sie Frau Mahler.“

„Das ist nicht wahr, das ist gelogen.“

„Er hatte zwei Flaschen Wein mitgebracht.“

„Herr in Deinem Himmel, wie werde ich armes Mädchen verleumdet!“

Sie weinte. Sie hatte wirkliche Thränen. War sie eine von der Natur so wunderbar und so selten begabte Heuchlerin, daß sie diese Thränen hatte, oder preßte sie ihr die ungeheuerste Angst aus?

Ich fuhr ruhig fort:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_439.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)