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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

die herzogl. Regierung in Eisenach erließ auf ihr Anstiften ein Verbot derselben. Natürlich erhöhten diese Maßnahmen nur des schlichten Mannes Ruf. Die massenhaft zuströmenden, bei ihm Hülfe suchenden Menschen zwangen ihn gleichsam, ihnen Arzneien zu verabreichen. Kleinhans bestimmte aus Frömmigkeit, oder aus Klugheit, oder aus beiden zugleich, einen Theil seiner Einnahmen für den Kirchenbau. Nun sah ihm die burggräfliche Kanzlei zu Farnrode erst durch die Finger, dann schützte sie ihn sogar auf heimlichen Befehl der regierenden Burggräfin, Mutter des unmündigen Burggrafen Georg Friedrich, seiner Gönnerin, gegen die Strenge der herzogl. Regierung. Dicel kaufte gute medicinische Bücher, und „fing sogar einen großen Proceß zur Universal-Medicin zu laboriren an“. Die Universalmedicin, die Panacee, der Stein der Weisen! Das war das goldne Ziel aller Laboranten, Medicaster und Aerzte von Theophrastus Paracelsus an, und einstweilen der Nimbus, in welchem sie vor den Augen des Volkes das Haupt steckten. Dicel schlug die rechten Wege ein, um ein berühmter und reicher Mann zu werden. Im Jahre 1712 kaufte er einstweilen in die alte Kirche „zu mehrerer Andacht“ ein kleines Orgelwerk, und damit setzte er sich bei der burggräflichen Regierung den ersten großen Stein in’s Bret.

So sehr nun auch die recipirten Aerzte lärmten und sich beschwerten und es endlich sogar dahin brachten, daß eine militairische Execution von Eisenach nach Seebach geschickt wurde, um Dicel’s Arzneivorrath zu vernichten und „seine Gläser und Büchsen zu zerschlagen“, so hielt doch der burggräfliche Hofrath zu Farnrode die Hand so kräftig über ihm, daß von den Befehlen gegen ihn keiner ausgeführt wurde. Die Sache ist um deshalb so sehr interessant, weil sie einem recht vor Augen führt, wie im Duodezstaat Eisenach ein mikrokosmisches Stätchen Farnrode existirt, dessen burggräfliche Kanzlei allen Befehlen der herzoglichen Regierung spottet. Eben so spottet ja wiederum die herzogliche Regierung des Duodezstaates den Befehlen des Kaisers und des Reiches. Das war im vorigen Jahrhundert die süße staatliche Wirthschaft in Deutschland.

Von nun an stieg der Andrang zu Dicel von Jahr zu Jahr und seine Einnahmen mehrten sich natürlich in gleichem Verhältniß. Aus ganz Thüringen strömten hilfsbedürftige Menschen nach Seedach und der Name des „Seewicher Doctors“ wurde immer berühmter und erschallte sogar über die Grenzen Thüringens hinaus. Und Dicel war nicht nur etwa der Arzt des gemeinen Volkes; die vornehmen Classen suchten seine Hülfe nicht minder und fürstliche Carossen führten ihn an die thüringischen Höfe und Höfchen. Freilich war kein deutsches Land so mit fürstlichen Familien gesegnet, als Thüringen. Wie es im 16. Jahrhunderte unzählige Klöster hatte, so im 18. unzählige Fürstenresidenzen, und da nicht so viele Städte da waren, als fürstliche Häuser, so residirten viele in Dörfern. Diese höchsten und hohen Personen waren in Folge der verkehrten luxuriösen Lebensweise des vorigen Jahrhunderts alle krank, und da ihre Hof- und Leibärzte ihnen nicht helfen konnten, so nahmen sie ihre Zuflucht zu dem berühmten Wunderdoctor in Seebach. Den regierenden, d. h. wüst lebenden Herzog von Eisenach selbst stellte Dicel von einem schweren Gebreste her, nachdem der Fürst alle Arzneien seiner Aerzte vergeblich gebraucht hatte. Auf Betrieb seiner Cousine, der Burggräfin Magdalene Christine, veranlagte der Herzog Diceln, sich von der Medicinalbehörde in Eisenach examiniren zu lassen. „Bei welchem Examine man Ihn dergestalt befanden, daß sogleich das emanirte Verbot in Eisenach aufgehoben wurde, kraft dessen Niemand aus diesem Fürstenthume bei Ihm Arznei holen sollte.“ Dicel erhielt den Titel als „hochfürftlicher Medicus.“

Jetzt stieg die Menge seiner Patienten auf einen noch höhere Zahl; Hunderte strömten Tag für Tag zu Wagen, Roß und Fuß in das kleine Dorf und der „fromme“ Dicel wurde immer reicher. An die Stelle seines alten Häuschens baute er eine große, bequeme Wohnung mit Scheuer und Stallung, kaufte Aecker, Wiesen und Gärten, legte sich eine bedeutende Landwirthschaft zu und lebte auf gutem Fuß. Als in seinem 50. Jahre seine einzige Tochter ohne Leibeserben starb (seine beiden andern Kinder waren klein gestorben), so beschloß er, auf einen bedeutungsvollen Traum hin, all’ sein Hab’ und Gut an die neuzuerbauende Kirche zu wenden und auch die Schule nach Kräften auszustatten. Ueberhaupt träumte der merkwürdige Mann viel und bedeutungsvoll. An Wendepunkten seines Lebens und in kritischen Lagen kam ihm stets ein vielgestaltiger Traum, der ihm Fingerzeige für sein einzuschlagendes Verhalten gab und den er gut zu deuten wußte. Dem erwähnten Documente sind mehrere solcher wunderbaren Träume in Dicel’s eigener Erzählung und mit seiner Auslegung beigefügt. Sie lassen errathen, wie klug dieser Fromme war.

Um diese Zeit malte Dicel die oben besprochene Heilandsapotheke und hing sie in seiner eigenen Apotheke mit einer Sammelbüchse auf. Jeder bei ihm Hülfe Suchende erhielt die Aufforderung, ein Scherflein zum Kirchenbau in die Heilandsbüchse zu legen. Der Ruf seiner Gottseligkeit und daraus entspringenden Heilkraft stieg dadurch bis in’s Fabelhafte. Man opferte ihm, wie man sonst Heiligen geopfert hatte. Er war ein von Vornehm und Gering weit und breit hochgefeierter und fast abgöttisch verehrter Mann. Von seinen Wundercuren weiß die Sage nicht Erhebens genug zu machen. Vorzüglich kettet sie sich an die Heilandsapotheke, so daß es eine allgemeine und feststehende Annahme war, der Heiland komme Nachts selbst zu ihm, hülfe ihm die Arzneien bereiten und gebe ihm bei schwierigen Krankheitsfällen Aufschluß, ob der Patient und womit er zu retten, oder ob er dem Tode verfallen sei.

Im Jahre 1733 bat Dicel die herzogliche Regierung in Eisenach und die burggräfliche Kanzlei in Farnrode um die gnädigste Vergünstigung, den Kirchenbau in Seebach auf seine eigenen Kosten beginnen zu dürfen. Zum Bauplatz hatte er schon einige Jahr früher ein Grundstück erworben. Als der Bau die vorhandenen Gelder aufzehrte, collectirte Dicel in der Umgegend, forderte zur Füllung der Heilandbüchse auf, ging die Herrschaften um Beisteuern an und brachte durch unermüdlichen Eifer genug zusammen, um den Bau nicht stillstehen zu lassen. Auf dem Johannisfeste 1736 wurde die Kirche mit großen Feierlichkeiten eingeweiht und der Mann, der sie eingeweiht hatte, ließ sich (seine Frau war des Jahres vorher gestorben) mit seiner Dienstmagd, die ihm 25 Jahre treu gedient, als erstes Brautpaar in der neuen Kirche einsegnen. Nicht ohne Absicht war diese Doppelfeier auf das Johannisfest verlegt; der Medicus hieß ja Johannes, und er hatte nichts dagegen einzuwenden, als der hochgräfliche Hofprediger seiner Weihpredigt den Bibelvers als Thema zu Grunde gelegt hatte: „Es war ein Mann von Gott gesandt, der hieß Johannes,“ und der Eisenacher Generalsuperintendent ihn in seiner Rede als den „Seebacher Micha“ hinstellte.

Dicel trug nicht nur alle nicht unbeträchtlichen Kosten dieser Feier allein, sondern speiste auch 125 arme fremde Leute auf seine Kosten. Auf sein Nachsuchen wurde vom burggräflichen Unterconsistorium zu Farnrode zum Andenken an dieses Weihefest das Seebacher Kirchweihfest („die Kirmeß“), abweichend von allen Dorfkirmessen im Lande, welche im Herbst gefeiert werden, auf den Dienstag nach dem Johannistage festgesetzt. Die Speisung der Fremden wiederholte Dicel auch in den folgenden Jahren, und er sah es gern, wenn sich recht viele an seinen Tisch setzten, bis endlich ein herkömmlicher Gebrauch daraus wurde. Dies ist der Ursprung der sonst in jener Gegend so berühmten und vielbesuchten „Seebacher Doctorkirmeß“, später auch wohl „Pfarrkirmeß“ genannt, welche jährlich auf wenige Tage in das sonst so stille und einsame Dorf ein merkwürdig bunt bewegtes Leben und fröhliches Treiben brachte. Sie war ein echtes, charakteristisches, thüringisches Volksfest.

Nach Herstellung der Kirche ging Dicel’s Bestreben dahin, sie reich und schön auszustatten; er schmückte Kanzel, Altar und Taufstein, stellte geschnitzte Bilder darin auf, ließ die Orgel bauen und die Glocken gießen. Dann rastete er nicht, bis er durch Anlegung bedeutender Capitale auch eine Pfarrbesoldung beschafft. Und so hatte er die Freude, den ersten Pfarrer selbst in die Kirche führen, dem er sein eigenes Haus zur Amtswohnung bestimmte. Nach seinem Tode wurde es ausschließlich Pfarrhaus und das jetzige neue Pfarrgebäude steht auf der Stelle des alten.

Als der fromme Mann mit Kirche und Pfarre fertig war, wendete er seine Vorsorge der Schule zu.

Es war natürlich, daß Dicel mit der Zeit ein vornehmer Mann wurde, der mit Fürsten und Herren ziemlich vertrauten Verkehr hatte. Das geht aus Briefen hervor, die sich erhalten haben. Besonders schloß ihn der Herzog Ernst August von Weimar, der originellste aller Fürsten, die je ein Land regiert haben, als er Erbe des Fürstenthums Eisenach geworden war, in „Affection.“ Ein eigenhändiger sehr gnädiger Brief war der Begleiter eines vom Herzog selbst erlegten Rehbocks.

Dicel starb 1756 einen Tag vor seinem 82. Geburtstage. Die Doctorkirmeß hat ihren alten Glanz verloren, dem Volke ist der gemüthliche Frohsinn abhanden gekommen. Seine Stiftungen werden aber das Andenken des ungewöhnlichen Mannes erhalten, der Charlatanerie und Frömmigkeit so gut zu verbinden wußte.

Ludw. Storch.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 464. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_464.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)