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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Ich werde diesen Augenblick nie in meinem Leben vergessen. Mit jedem Ruck von oben zog sich der Knoten länger, rückte der Sturz in die Tiefe näher. Noch einmal rief ich den Vettern in höchster Seelenangst zu, fester und krampfhafter packten meine Fäuste das Seil, dann schloß ich die Augen – Gott meine Seele empfehlend und – der Herr im Himmel half.

„Seppel,“ rief es auf einmal neben mir und eine Hand packte in mein Haar und zog mich an sich. „Seppel – um Gott, was ist mit Dir? Wo hast’n Hut – wo’n Stock?“

„Ich öffnete die Augen. Meine beiden Vettern knieten auf der Höhe und zogen das Seil an, um mich auf festen Boden zu bringen. Ich war der Höhe näher gewesen, als ich geahnet hatte. Der Knoten, wenn auch schon halb gelöst, hatte immer noch gehalten und die Last bis zu Ende getragen. Vielleicht zwei Minuten später, und das Ende schnellte vom großen Seile ab und mich in die Tiefe. Als ich die Felsspitze erreichte, stürzte ich ohnmächtig zusammen. Wie lange ich so gelegen, weiß ich nicht; als ich aber nach einigen Tagen im Hause meiner Anverwandten wieder erwachte und erfahren hatte, daß ich stark gefiebert und viel böse Dinge gesprochen, hielt mir der ältere Vetter lächelnd einen Spiegel vor.

„Mein Haar war schneeweiß.“




Reiseerinnerungen.[1]
1. Bamberg.

Der Michelsberg und das Bürgerhospital in Bamberg.

Wenn der schaulustige Reisende seinen Fuß durch die deutschen Gauen setzt, so prägen sich ihm vor allen solche Punkte ein, die ihm Auge und Herz besonders befriedigten und große geschichtliche Erinnerungen in ihm wach riefen. Darum sei es mir vergönnt, meine flüchtigen Reisebilder mit dem herrlichen Bamberg und seinen Umgebungen zu beginnen. Ist dieses doch eine der reizendsten Stellen in dem schönen, malerischen Garten, der den Main und die Regnitz umsäumt! Schon von Weitem gewährte mir Bamberg, die uralte, geschichtlich berühmte Bischofsstadt, einen zugleich majestätischen und deutsch gemüthlichen Anblick. Hoch über ihr emporragend winkte der Michelsberg mit seiner prächtigen ehemaligen Abtei, welche gegenwärtig in ein Bürgerhospital und eine Leihanstalt verwandelt ist, sowie seine Altenburg und aus der Mitte der Stadt wie ein ehrwürdiger Patriarch sein hehrer Dom einen ergreifenden Willkommengruß entgegen. Aber das Gefühl freudigen Entzückens und der Bewunderung ergriff mich, als ich die Staffeln des Michelsberges erstiegen hatte und in der Nähe der einzig schönen Abtei meine Blicke weit über die Stadt und ihre in jeder Beziehung reizende, üppige Umgebung schweifen ließ. Hier, in den schattig grünen Lindenalleen des ehemaligen Klostergartens, vor mir im Thal die ewig merkwürdigen Gebäude der Stadt und weiterhin die unermeßlichen Reichthümer einer gottgesegneten Flur, heimelte es mich an, als befände ich mich am hochklopfenden Herzen des deutschen Vaterlandes; wahrlich, ein Genuß, der den Touristen für lange Strapazen köstlich belohnt!

Bamberg, vormals die Residenz eines reichsfreien Hochstifts, ist eine der ältesten Städte Deutschlands und zählt gegenwärtig noch etwa 20,000 Einwohner. Sie ist im Allgemeinen in gutem Style erbaut und hat mit wenigen Ausnahmen lauter schöne, breite Straßen. Seinen Dom baute Kaiser Heinrich II. in reinem byzantinischem Style. Er enthält das Grabmal dieses Kaisers und seiner Gemahlin, des Papstes Clemens II. und vieler Bischöfe, welche einst hier in voller geistlicher Herrlichkeit den Krummstab schwangen. Die alte Residenz der Bischöfe, ein verwitterter und geschmackloser Palast, ist durch die im Jahre 1702 vom Kurfürsten und Fürstbischof Lothar von Schönborn auf demselben Platze aufgeführte neuere Residenz ganz in Schatten gestellt worden. Diese neuere Residenz, 1803 sammt allen übrigen Klostergütern säcularisirt, ist unter Anderem dadurch merkwürdig, daß der französische Marschall Berthier sich am 1. Juni 1815 aus Verzweiflung über den Untergang des Napoleonischen Waffenglückes vom dritten Stock in die Tiefe stürzte und auf der Stelle verschied. Außerdem fesseln in der Stadt das ehemalige Jesuitencollegium, gegenwärtig zu einem katholisch-theologischen Seminar, einer öffentlichen, trefflich

  1. Unter diesem Titel werden wir unsern Lesern eine Reihe Abbildungen bringen, die ihnen in den Winterabenden als Erinnerungszeichen dienen sollen an schöne Sommer- und Ferienreisen, an sonnige Fahrten durch Berg und Wald. Die Stoffe dazu werden wir aus Nord, Süd, Ost und West unseres schönen Vaterlandes wählen.      D. Redact.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 473. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_473.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)