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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

anthut. Es sind dies die sogenannten Nörgelsüchtigen oder Nörgelanten.

Unter „Nörgeln“ versteht man bekanntlich, wenn Jemand unablässig ohne zureichenden Grund seine Umgebungen mit Klagen, Tadel und sonstigen Aeußerungen von Unzufriedenheit belästigt. Mit dieser Sucht (welche in keinem ärztlichen Lehrbuche erwähnt ist) haben allerdings die Aerzte vorzugsweise häufig zu thun und sie ist oft schwer von wirklicher Krankheit zu unterscheiden. Aber sie ist keine solche, sondern ein Erziehungs- und Charakterfehler. – Die Hysterische und der Hypochondrist sind Beide wirklich nervenkrank; ihre Krankheitssymptome stehen immer im Verhältniß zu lhrer körperlichen Störung (wenigstens würden wir dies finden, wenn Letztere nicht oft für unsere Sinne unzugänglich wäre). Auch gehört das „Sichausklagen“ nicht nothtwendig in allen Fällen zu den Symptomen Beider, den es gibt Hysterische und Hypochendristen, welche trotzig Alles in sich zu verschließen streben. Außerdem befällt die Hysterie nur das geschlechtsreife Frauenalter und die Hypochondrie fixirt alle Aufmerksamkeit des Befallenen nur auf seine eigene Körperzustände. Die Nörgelsucht hingegen kommt in beiden Geschlechtern und in allen Lebensaltern vor und erstreckt sich auch auf nichtmedicinische Gegenstände (als Beispiel dienen: die Ehemänner, welche immer in die Töpfe gucken oder an dem Putze ihrer Frauen mäkeln; die Kinder, welche immer von anderen Menschen herumgetragen und beschäftigt sein wollen; die Greise, welche auf die gesammte Jetztwelt schmähen).

Auch der krankhafte Trübsinn, die Melancholie, wird leicht mit der Nörgelsucht verwechselt; aber Melancholie ist eine wirkliche Geisteskrankheit, in der Regel die erste Stufe zu den übrigen Seelenstörungsformen: hier klagt und weint der Kranke ohne Rücksicht auf seine Umgebungen; letztere kommen bei ihm nur in so fern in Betracht, als sie (gleich jeder anderen Berührung der Außenwelt) auf sein Gemüth einen schmerzerregenden Eindruck machen, also eine Veranlassung mehr zum Sichunglücklichfühlen geben. Der Nörgler hingegen will nicht sich, sondern seine Umgebungen quälen, um an ihnen seine üble Laune auszulassen. Daher sucht er[WS 1] sich seine Leute aus, und wenn er unter den Seinigen Niemand findet, der sich dazu eignet oder hergibt, so nimmt er (wenn er Geld hat) einen Arzt an, der sich für so und so viel jährlich etwas vornörgeln lassen muß.[1]

Nach diesen Charakterzügen wird es leicht sein, den Nörgelkranken von anderen wirklichen Kranken zu unterscheiden. Begreiflicher Weise sind die Symptome, welche er angibt, hauptsächlich „subjective“, d. h. Befindensveränderungen, Berichte über die mannichfachsten Empfindungen, Gefühle und Stimmungen. Doch kommen nachgeahmte oder unwillkürlich erzeugte Bewegungs- oder Krampfsymptome vor, besonders oft ein eigenthümliches kurzes Husten, sodan Räuspern, Racksen, Kurzathmigkeit, asthmatisches Athemholen, selbst Würgen und Brechbewegungen, Zittern, Zuckungen, Phantasiren u. s. w. Der scharfe Beobachter wird aber bald den unechten, nachgeahmten Charakter solcher Empfindungs- oder Bewegungssymptome ermitteln, namentlich durch die stattfindenden Uebertreibungen oder durch das Nichtzusammenstimmen mit den erfahrungsmäßig bekannten Nebenumständen, mit den typischen Zeit- oder anatomischen Ortsverhältnissen, vor Allem aber mit den Ergebnissen der objectiven physikalisch-ärztlichen Untersuchung. Am schwierigsten zu erkennen ist der nicht seltene (und entschuldbarste) Fall, wo wirkliche, besonders lange hinausgezogene Krankheit sich mit Nörgelsucht complicirt, wo dem Kranken das Mark der Körperkraft, die Hoffnung schwindet und er geneigt wird, alle seine gerechte Unzufriedenheit ungerechterweise dem Arzte (auch wohl den Arzneien und dem Apotheker) entgelten zu lassen.

„Aber wie in aller Welt kann man sich so etwas angewöhnen?“ fragst Du, lieber Leser.

Gemach! bedenke, ob Du nicht selbst in Dir einen Keim dieses Uebels trägst. Denn die Nörgelei beruht auf denselben Einrichtungen und Gesetzen des menschlichen Hirnlebens, welche wir im vorigen Artikel (Gartenlaube Nr. 13) als allgemeine Nervengesetze kennen lernten. Das Seelenorgan, unablässig mit Empfindungsreizen geladen, sucht sich derselben zu entledigen: durch Worte, Handlungen oder sonst auf eine Art. Gleichwie mein Kanarienvogel singt, um seinen Gefühlen Luft zu machen, so quält der Nörgler sich und Andere, weil er, kein besseres Mittel kennt, um seine Stimmungen hinauszulassen. Die Quelle dieser Unart aber, die Ursache, daß gerade dieses Mittel so häufig von den Leuten gewählt wird, liegt theils in dem allgemeinen Charakter unserer Zeit, theils in der Erziehung und den besonderen Lebensläufen gewisser Personen. –

Ein Grundübel unserer Zeit ist die Charakterlosigkeit, der Mangel an Thatkraft, an Energie. Thatkräftige Leute nörgeln nicht, weil sie handeln und sich dadurch Luft machen. Aber die Unentschlossenen, die Hamlete männlichen und weiblichen Geschlechts, haben immer die vorwiegende Neigung, Alles zu bekritteln und tadelnswerth zu finden. – Unsere Erziehung trägt oft schon vom Wickelbettchen an reichlich dazu bei, Nörgelsüchtige heranzubilden. Wie wird der Wilde erzogen? Als Säugling bindet ihn seine Mutter an Moos und Baumrinde und hängt ihn so stundenlang an einen Ast, bis sie gelegentlich wieder nach ihm sieht. Dabei gewöhnt sich der junge Weltbürger frühzeitig, auf sich selbst angewiesen zu sein, sich allein zu unterhalten und allerlei Unannehmlichkeiten (z. B. ein bischen Naß- oder Unbequemliegen) geduldig zu ertragen. Ganz anders bei uns. Da wird der künftige Weltbürger (in vielen Familien) von Klein auf gehätschelt und verwöhnt, dutzendmal umgebettet, herumgetragen, durch Schäkern, Spielen, Vorsingen u. s. w. frühzeitig daran gewöhnt, immer von Andern unterhalten und amüsirt zu werden. Namentlich die Erstgeborenen! Denn da in unsern Landen die Hauptvorbereitung der Mädchen auf ihr künftiges Mutteramt in dem Puppenspielen besteht, (was ich, wie das Soldatenspielen der Knaben in meinem Staate gesetzlich verbieten würde), so ist ein solches armes Erstgeborenes für seine jugendliche Mutter in der Regel nur Ersatzmittel oder neue Auflage der vor wenig Jahren zurückgeschobenen Lieblingspuppe. Den ganzen Tag wird das kleine Geschöpf herumgetragen und geherzt, sein zartes Gehirn durch Licht, Spielwerk und Schäkerei aufrecht erhalten, auf jedes Schreien (wäre es auch deutlich nur von Langeweile oder Ermüdung erzeugt) wird sogleich geachtet, vielleicht sogar deshalb zum Doctor geschickt oder doch das Dienstmädchen gescholten. Kein Wunder, wenn das dem Kinde zur Gewohnheit wird und sich so ein verwöhnter, anspruchsvoller Charakter bildet, der schon im Wickelbett seine Wärterinnen peinigt und im späteren Leben immer zum Unzufriedenwerden geneigt ist, sobald nicht Alles nach Wunsche geht oder Unterhaltung fehlt. Sind namentlich die Eltern reich genug oder sonst in der Gesellschaft hoch genug gestellt, daß ihre Kinder Schmeichler finden, so halten sich diese zeitlebens für etwas Besseres, als andere Leute, und damit spukt das unzufriedene Wesen unvertilgbar in solchen Köpfen. („Sie sehen stolz und unzufrieden aus, sie sind aus einem hohen Haus!“ Goethe, Faust.)

In den späteren Lebensjahren wirken als Quellen der Nörgelsucht: das leidige Stillsitzenmüssen in den Schulen, der gehemmte Bewegungstrieb bei Knaben und Mädchen mit seinen traurigen Folgen (Rückenmarks- und Genitalien-Reizung, Blutmangel, Muskelschwäche und Nervernschmerzen); – die Periode der Liebesaffairen, der verkehrten und verunglückenden Jugendträume, der getäuschten Hoffnungen und abwelkenden Ideale; – der Mangel an tüchtiger, in’s Leben eingreifender Berufsarbeit, das Müßiggehen und die Langeweile, die Unfähigkeit, ohne Anderer Beihülfe sich angenehm und nützlich zu unterhalten, sich selbst zu beschäftigen; im höheren Alter das immer Nüchterner- und Kahlerwerden des Lebens, das Schwinden jeder freudigen oder erhebenden Zukunft und die reuevollen oder unbefriedigenden Rückblicke in die Vergangenheit, endlich die specifische Eigensinnigkeit, Hartherzigkeit und Herrschsucht der alten Leute. – Vor allen sind Emporkömmlinge, Geldprotzen und Couponschneider, – Leute, die den ganzen Tag nichts zu thun haben und sich doch ihres Geldes wegen für besonders kostbare und wichtige Personen halten, – zum Nörgeln am meisten aufgelegt.

Doch kommt Dies Uebel auch unter den ärmeren Classen vor. Weiße erzählt in dem alten Kinderfreund eine ganz hübsche Geschichte von so einem nörgelnden Frauenzimmer, das zuletzt, als sein Wohlthäter jeden andern Grund zu Klagen hinweggeräumt

  1. Oder Andere halten ihm einen solchen als Blitzableiter! Einst berief man mich zu einr verheiratheten Dame, welche über ihr vermeintliches Lungenleiden und baldiges Ende mit so viel dramatischer Wirksamkeit zu klagen wußte, daß ihre jungen Töchter öfter in Thränen zerflossen. Sie that dies alltäglich von zwölf Uhr Mittags an, steifaufrecht von Crinoline und Seide umwallt, im Lehnstuhle sitzend. Vor zwölf Uhr war sie für Niemand, selbst nicht für den Arzt zu sprechen. – Ihr Gemahl war der größte Phlegmatiker, den ich jemals sah (ich zählte bei ihm in der Minute unter sechzig Pulsschläge und kaum mehr Worte, wenn er sprach). Er bezahlte seiner Frau einen Arzt, um selbst Ruhe zu haben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: suchter
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 488. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_488.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)