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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

hatte, über das Schreien eines Pfaues unglücklich wird. – Gutmüthige Aerzte werden oft genug von solchen Personen aus den ärmsten Volksclassen geplagt; freilich kann man bei Solchen am ersten noch das Klagen verzeihlich finden!

Es kann aber das Bedürfniß des Nörgelns auch künstlich erzeugt werden. Dies geschieht schon von jenen (nicht selten zu findenden) Eltern, welche immer in ihre Kinder mit gesundheitlichen Fragen dringen: „es fehlt Dir doch nichts? bist Du denn wohl? thut Dir etwas weh?“ u. s. w. – Namentlich aber geschieht dies durch die Aerzte und zwar fast alltäglich. Das Geschlecht der Aerzte erfällt in zwei Gattungen (natürlich mit Zwischennüancen): die wissenschaftlichen und die industriellen. Beide haben, je von ihrem Standpunkte aus, vollkommen Recht und so auch in den Consequenzen desselben. – Der industrielle Mediciner treibt sein Fach, um Geld zu verdienen und das auf Studien, Reisen und Doctorhut verwendete Capital nutzbar zu machen. Er denkt entweder ganz entschieden im Geiste „unseres Verkehrs“: „Laß Dir treten von die Leut’, laß Dir spucken in’s Gesicht, Du mußt doch werden reich!“ Oder als billigdenkender Christ: „Wir Aerzte wollen doch auch leben! Müssen wir nicht alljährlich eine Menge von Visiten, von schweren Operationen und wichtigen Curen ganz unentgeltlich oder für ein Spottgeld machen? Warum sollen wir uns nicht an den reichen Nörglern schadlos halten. Wenn ich’s nicht thue, so thut’s ein Anderer!“ Er hat durchaus keinen Grund, Jemand zu behindern, der ihm etwas vornörgeln will, dafern es nur ordentlich bezahlt wird. Im Gegentheil! Da es doch sein unvermeidlicher Tagesberuf ist, Klagen zu hören und zu beschwichtigen: so sind ihm jene Fälle eine wahre Erholung, wo dem Kranken eigentlich nichts oder doch nur sehr wenig fehlt, wo also die ärztliche Verantwortlichkeit weit geringer und ein grober Fehlgriff in der Behandlung gar nicht zu fürchten ist, – wo der Arzt demnach seinen Geist gar nicht anzustrengen braucht und sogar während des Zuhörens und Jajasagens nebenbei „an ganz andere Dinge denken kann.“ (Eigene Worte eines Collegen.)

So kommt es denn, daß ein solcher Arzt, besonders als wohlsalarirter und zu regelmäßigen Visiten verpflichteter Hausarzt, sich daran gewöhnt, durch sein herkömmliches „Wie befinden Sie sich?“ die Orgel der Klagen aufzuziehen, und eine halbe Stunde lang die bekannten Stückchen spielen zu hören. Namentlich ist die Homöopathie auch für diese Zwecke meisterlich ausgesonnen und mit Recht das Hätschelkind der blasirteren west- und der halbcivilisirteren ost-europäischen Aristokratie geworden. Der homöopathische Arzt ist durch sein System verpflichtet, kein Symptom und besonders kein subjectives (d. h. Klagen über Befindensveränderungen) gering zu achten, vielmehr nach Ergebniß derselben (ohne sich über ihren Grund den Kopf zu zerbrechen) seine Auswahl unter seinen Mitteln sorgsam zu treffen. So wird also schon sein bloßes Eintreten auf den Kranken gerade so viel, als ob er fragte: „Haben Sie denn nichts Neues zu klagen? Strengen Sie sich doch ein Bischen an!“ Eine Aufforderung, welcher nur zu gern entsprochen wird. Nimmt man hierzu die hingebende Aufmerksamkeit und geheimnißvoll erwägende Miene des Doctors, die pedantisch genaue, oft von beiderseitigen Erörterungen unterbrochene Auswählung des entsprechendsten, symptome-deckenden Mittelchens (es kommt sogar vor, daß der Doctor „des Nachs aufgewacht ist und nachgedacht hat, welches Mittel am besten passe!“) – nun, jeder Unbefangene muß zugeben, daß, wenn einmal Komödie gespielt und „viel Lärm um Nichts“ aufgeführt werden soll, es schwerlich auf unterhaltendere Weise geschehen kann. Unterhaltender jedenfalls als Patiencelegen und Grillenspiel, und weniger angreifend als Schach oder L’hombre. Denn von Nichts reden die meisten Menschen lieber, als von ihrem lieben Ich; dieser Gegenstand ist unerschöpflich, und strengt gar nicht an. Und so bildet sich denn eine süße Gewohnheit des täglichen Nörgelns, bei welcher beide Parteien, Arzt und Kranker, sich ganz wohlbefinden. ich sah fast ein Jahr lang täglich die Equipage unseres vornehmsten Homöopathen vor einem der schönsten Häuser unseres nobleren Stadtviertels halten, und zwar so lange, daß ich inzwischen meist zwei bis drei Krankenvisiten in meiner raschen Art vollbrachte. Endlich erfuhr ich zufällig, wer die vermeintlich schwere Kranke war: eine kürzlich verheirathete reiche Erbin, welche nach Abschied des Doctors regelmäßig spaziren fährt, und im Park aussteigt. Diese junge Dame hat zwischen Frühstück und Toilette täglich ein Stündchen übrig, welches der Doctor ausfüllen muß. Soll Er es ihr etwa ausreden? Soll Er ihr in’s Gesicht sagen, daß sie sich mit etwas Besserem beschäftigen möge, und daß es zweier vernünftiger Menschen unwürdig sei, solch eine tägliche Komödie mit einander zu spielen? – Im Gegentheil! – Es gehört vielmehr zu den besonderen Kunstfertigkeiten des industriellen Arztes, den Kranken an das Besucht- und Befragtwerden so sehr zu gewöhnen, daß derselbe endlich (wie Molière’s Malade imaginaire) ohne den Arzt gar nicht mehr leben zu können vermeint.

Der rationelle Arzt allerdings denkt anders; er wird zum Theil von gewissen naturwissenschaftlichen und sittlichen Bewegungsgründen geleitet, welche jedem andern Gewerbe der Welt fern bleiben. Er darf nicht blos auf seinen eigenen Vorteil achten. So fühlt er sich berufen, Leuten, denen eigentlich nichts fehlt, das Doctorn abzugewöhnen, und sich selbst gewissermaßen entbehrlich zu machen. Aber welche Summe von Mühe und Verdruß dieses Bestreben, die Leute zu ihrem eigenen Besten vernünftig zu machen, mit sich bringt, davon hat Niemand einen Begriff, der es nicht selbst versucht hat. Ja, wenn die Leute vernünftig sein wollten! Aber das fällt ihnen gar nicht ein. Die Meisten, und namentlich die Geldhabenden, wollen ihren Stimmungen und Eigenheiten und Launen so ungestört als möglich dahinleben. Wer sie darin stört, ist ihr Feind, und den Arzt bezahlen sie als den Lootsen, der auf diesem Meer am besten herumzusteuern versteht. – Nun werfe derselbe sich zum Nacherzieher, zum Leuteverbesserer und Kritiker auf! Abgedankt, als grob oder rauh, als Tyrann oder gefühlloser Mensch verschrieen zu werden, ist seine nächste Aussicht! Nur in einzelnen Fällen, und erst spät nach Jahren bringt er es vielleicht dahin, daß sein uneigennütziges Streben und und da mündliche Anerkennung findet. Aber während dessen hat sein industrieller College, der liebevoll Theilnehmende, längst seine klingende Anerkennung massenhaft in Sicherheit gebracht!

Aus dem Bisherigen geht hervor, daß man es nicht vom Arzt verlangen kann, daß er allein sich dem Volksübel der Nörgelsucht entgegenstemmen solle. Soll Er sich den Haß dieser Leute zuziehen, welche oft so einflußreich auf seine sociale Stellung sind? Denn dieselben Quängler sind es, welche zum Theil die öffentliche Meinung bestimmen, welche an öffentlichen Orten wie in Privatgesellschaften und Familiencirceln das Wort führen, hier und da etwas zu tadeln finden und, wenn sie nichts Anderes wissen, über den Werth oder Unwerth der Aerzte (deren sie gewöhnlich eine Mehrzahl gebraucht haben) aburtheilen und sich alle Mühe geben, um andere, bisher harmlose Menschen, mit ihrer Unzufriedenheit anzustecken und gegen den oder jenen Arzt, der ihnen einmal die Wahrheit gesagt hat, aufzuwiegeln.

So kommt es denn, daß ein umsichtiger Arzt sich nur sehr behutsam an die Behandlung dieses häßlichen Gebrechens wagt. Nur Schritt für Schritt, unter großem Aufwand von Geduld und Beharrlichkeit, durch Milde und Ernst, mit geschickter Benutzung jedes Zwischenfalles und unter consequenter Unterstützung der Angehörigen gelangt er dahin, einen solchen moralischen Einfluß auf den Kranken zu gewinnen, daß dieser nach und nach der Nörgelei sich schämen lernt, und sich in Selbstbeherrschung zu üben sucht. – Die Molière’sche Curmethode, den eingebildeten Kranken selbst zum Arzt zu machen, ist inzwischen durch Hahnemann’s Erfindung in’s Großartige getrieben worden. – Auch bei der Kaltwassercur spielt dieses Selbstdoctorn eine Rolle mit; doch hat diese Behandlungsweise hauptsächlich dadurch Werth gegen Nörgelsuchten, daß der Patient in die Hände eine fanatisch für Abhärtung und Naturheilungen begeisterten Mehrzahl fällt, welche ihn bald mit fortreißt und fernere Verweichlichungen unmöglich macht. Auf jede Klage eine neue Kaltwasser-Procedur, wobei er aus dem Regen in die Traufe kommt: das ist ein vortreffliches Mittel, um einem Solchen das Querulieren endlich ganz zu verleiden! – Auch das Turnen, besonders in Vereinen, ist ein hochzuschätzendes moralisches Hebungsmittel für Nörgelnde jedes Alters oder Geschlechtes; es steckt in ihm, bsonders in der edlen deutschen Turnkunst, ein merkwürdiges erfrischendes, geistig freimachendes und erheiterndes Element. Ein Turner, der nörgelt, ist fast gar nicht denkbar. – Im Nothfall thun es auch andere Körperbewegungen. Das Specificum, welches Cullen für Gichtische empfahl: „täglich einen Schilling zu verzehren, den man sich mit grober Körperarbeit verdienen müsse“, – paßt auch für Nörgelsüchtige! – Eine Mehrzahl derselben besuchen Jahr aus Jahr ein die Bäder:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 489. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_489.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)