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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Furcht war verbannt aus ihrem Busen. Die meisten von ihnen, aufgewachsen inmitten von Wohlstand und Reichthum, bewiesen nun, plötzlich auf sich selbst angewiesen und Hunger und Noth preisgegeben, daß Frauen fähig sind, so viele Entbehrungen zu erdulden und sich vielleicht mit noch mehr Hingebung in die traurigsten Zeitumstände zu schicken, als das andere, härtere Geschlecht. Wie vielen von ihnen bluteten die Herzen in Trauer um den Tod von Gatten und Brüdern, wie manche arme Mutter wachte an dem Sterbebette ihres Kindes, verwundet von einem feindlichen Geschosse oder, was noch weit öfter der Fall war, dahinsiechend vor Hunger und Erschöpfung! Und die armen Kleinen, wenn sie Schusser spielten mit den Musketenkugeln und lachend die gewaltigen Kanonenbälle in den Höfen umherrollten, ahnten kaum, mit welcher Angst und Bangigkeit ihre Mütter sie bewachten, mit wie viel Kummer und Sorge sie an deren furchtbares Verhängniß dachten!

Das Lazareth war zu der Zeit stets überfüllt, und das Schauspiel, das es darbot, herzzerreißend. Ueberall lagen die Officiere und Leute umher, auf Betten, mit Blut bedeckt und voller Ungeziefer. Der Chirurgen, Krankenwärter und Diener hatten wir viele, und doch reichten sie nicht aus, um bei all’ ihrer unermüdlichen Thätigkeit Jedem helfen zu können; und was das Wechseln der Wäsche anlangte, wo hätten wir reines Linnen hernehmen sollen? Wir hatten einen oder zwei Dhobies (eingeborene Wäscher), das ist richtig, welche dann und wann zu fabelhaften Preisen wuschen, – schlecht genug und ohne Seife, an der ein großer Mangel in der Garnison herrschte, – aber die waren mit Arbeit überhäuft und wollten sich nicht plagen; außerdem besaßen wir keinen großen Vorrath an Wäsche. Reinlichkeit war ein Luxus, auf den zu pochen nur Wenigen vergönnt war.

Es gab nicht genug Bettstellen für Alle. Viele der Verwundeten lagen stöhnend und röchelnd blos auf Matratzen und Mänteln. Von allen Seiten ertönten Schmerzenslaute, jämmerliches Geschrei um Wasser und Beistand. Die Räucherungen, zu denen wir Zuflucht nahmen, reichten nicht hin, den über der ganzen langen Krankenhalle lagernden lästigen Verwesungsgeruch zu entfernen. Die Atmosphäre darin war erstickend und pestartig. Des unaufhörlichen Feuerns wegen mußten die Fenster verbarrikadirt werden und so konnte Luft und Licht einzig durch die Thüren gegenüber der Residenz und der Baileywache in das Gebäude eindringen. Das obere Stockwerk war ganz unbewohnbar, selbst der Aufenthalt in dem unteren nichts weniger als gefahrlos.

Die Belästigung durch Fliegen nahm von Tag zu Tag in einem so heillosen Maßstabe überhand, daß uns zuletzt das Leben durch diese Plagegeister mehr als durch irgend ein anderes unserer zahlreichen Bedrängnisse gänzlich verleidet wurde. Bei Tage Fliegen, bei Nacht Mosquito’s. Letztere waren noch auszuhalten, die erstern aber unerträglich. Lucknow ist längst wegen seiner Fliegen berüchtigt, aber zu keiner Zeit hat diese Plage eine solche Höhe erreicht. Die Unmasse faulender Stoffe, welchen wir nicht verwehrten, sich mehr und mehr anzuhäufen, der Regen, die Commissariatsmagazine und das Hospital hatten unglaubliche Schaaren dieser Insecten herbeigelockt. Die Egypter können unmöglich unter ihrer Fliegenplage heftiger gelitten haben, als wir. Sie schwärmten in Millionen und wenn wir jeden Tag von ihnen Hunderttausende in die Luft bliesen, so schien dies ihre Legionen nicht um ein Milliontheil verringert zu haben. Die Fußböden waren schwarz von ihnen und unsere Tische buchstäblich bedeckt mit diesen verfluchten Geschöpfen. Wahrlich, der bloße Gedanke an jene Pest wäre hinreichend, einen Heiligen zum Fluche zu verleiten.“

Nachdem Noth und Entsetzen unter den Belagerten die höchste Stufe erreicht, nachdem die Hoffnung auf herannahenden Entsatz mehrmals getäuscht worden war, vernahmen die Unglücklichen endlich während des 23. und 24. Septembers eine heftige Kanonade in einiger Entfernung von der Stadt. Lassen wir jetzt unsern Berichterstatter selbst erzählen:

„Wir wußten nun ziemlich gewiß, daß außerhalb unseres Platzes ein wilder Kampf wüthete. Obgleich die strengsten Befehle gegeben waren, unsere betreffenden Posten nicht zu verlassen, so fühlte ich mich doch zu sehr aufgeregt, um das Verbot zu beachten, und stahl mich in der Stille hinweg nach der Terrasse vor der Statthalterschaft. Ich sah nichts, als Rauch, und hörte nichts, als Musketengeknalle. Offenbar hatte das Straßengefecht seinen Anfang genommen. Das Feuer kam allmählich, aber sicher näher und näher gegen unsere Verschanzungen heran und endlich verkündigte ein lauter Jubelschrei den Einmarsch der langersehnten Verstärkungen.

„Das grenzenlose Entzücken, mit welchem sie begrüßt wurden, beschreiben zu wollen, wäre Wahnsinn. Als ihre Hurrahs und die unseren in meine Ohren schallten, brach mir das Herz fast vor Wonne. Thränen stiegen mir unwillkürlich in die Augen und ich fühlte – nein! es ist unmöglich, in Worten dieses beseligende Gefühl von Erlösung, diese Mischung von Freude und Hoffnung wiederzugeben, die mich beinahe überwältigten. Der zum Tode verurtheilte Missethäter, der im nämlichen Augenblicke, wo der Scharfrichter zum Hiebe ausholt, begnadigt und befreit wird, oder der schiffbrüchige Matrose, der in dumpfer Hoffnungslosigkeit das Bret, an dem er sich bisher krampfhaft festgeklammert, fahren läßt und mit einem Male gerettet wird, können allein ein annäherndes Bild unserer Empfindungen geben. Wir waren nicht blos glücklich, glücklich über alle Begriffe, und dankten dem Gott der Barmherzigkeit, der uns durch unsere edlen Befreier, die Generale Havelock und Outram, vom sicheren Tode erlöste, sondern fühlten uns auch stolz auf die Vertheidigung, die wir geführt, und auf den Erfolg, mit dem wir gegen eine so furchtbare Uebermacht um unser Leben sowohl, als für die Ehre und das Leben der Frauen und Kinder, die unserer Hut anvertraut waren, gekämpft hatten.

„Als unsere Erlöser hereinströmten, begrüßten sie uns mit lauten Hurrahs und dann stieg von allen Seiten und Ecken, von allen Posten und Terrassen ein furchtbares Jauchzen zum Himmel empor, ein tausendstimmiges „Hurrah!“ es war kein „Gott sei uns gnädig“ – es war der erste Ausbruch ungebundener Lust einer von Verzweiflung erretteten Schaar. Gott sei gelobt, wir blickten nun in die Gesichter unserer Landsleute, wir rannten auf sie zu, Officiere und Soldaten, ohne Unterschied, und schüttelten ihre Hände, mit welch’ unnennbarer Herzlichkeit! Nun drangen die schrillen Noten unserer hochschottischen Dudelsackpfeifer in unsere Ohren. Nie hat die herrlichste Musik süßer geklungen, nie hat irgend eine Melodie ihre Zuhörer mehr begeistert, mehr beseligt. Und diese braven Soldaten selbst, viele von ihnen blutig und erschöpft, vergaßen die Verluste ihrer Cameraden, die Qual ihrer Wunden, die Anstrengungen, mit welchen sie unsertwegen die unsäglichsten Hindernisse bekämpft und überwunden hatten, über der Freude, das Werk unserer Befreiung vollendet zu haben.

„Wie begierig wir ihren Erzählungen lauschten! Mit welchem Gefühl von Dankbarkeit, Stolz und Vergnügen wir vernahmen, was für eine Theilnahme unsere verlassene Lage nicht nur in ganz Indien, sondern auch in allen Volksschichten Englands hervorgerufen hatte! Mit welcher Spannung wir, die wir von aller Verbindung mit der übrigen Welt abgeschnitten gewesen, auf die Nachrichten horchten, welche die Braven uns von andern Stationen Indiens brachten! Wir erfuhren nun den wahren Sachverhalt der Schlächterei in Cawnpore zum ersten Male in all seinen schrecklichen Einzelheiten. Aber wir hörten auch, wie fürchterlich Brigadier Neill, dieser tapfere Führer, Rache geübt hatte für die Schändung unserer Frauen, für den Mord unserer Kinder. Mit Kummer und tiefem Schmerz, gemischt mit einem wilden Entzücken über die gräßliche Vergeltung, mit der wenigstens einige von den Missethätern heimgesucht worden, vernahmen wir die Erzählung. Aber ein schwerer Gram dämpfte die allgemeine Freude – der Tod eines unserer bravsten und beliebtesten Officiere, des Generals Neill.“

„Am nächsten Morgen“ – fährt Ruutz Rees später fort – „erfuhren wir, was für schwere Opfer die Ausführung unseren Freunden gekostet hatte. Das erste Gefecht hatte in Futtypore stattgefunden. Nena Sahib führte ungefähr 7000 Mann gegen die 1500 Mann Havelock’s; seine Manöver waren ausgezeichnet, aber die feindliche Cavalerie taugte wie gewöhnlich nichts. Die englischen Truppen schlugen sie mit dem Verluste von 2000 an Todten, und nahmen ihnen beinahe alle Kanonen ab. Noch zwei Treffen wurden geliefert, bis sie vor Cawnpore eintrafen. In beiden war Havelock siegreich.

„Der Nena, wüthend über die Niederlage seines Heeres, ganz im Einklange mit seinem scheußlichen Charakter, ließ alle die Weiber und Kinder, welche von dem ersten Blutbade in Cawnpore übrig waren, umbringen. Nun aber rückte Neill an mit dem 1. Madras-Regimente, Sikh- und Brigademajor Cooper’s Artillerie, dem 78. Hochschotten-Regiment und einigen freiwilligen Artilleristen, und schlug, ungeachtet seiner geringen Zahl, die Feinde in einer regelmäßigen Schlacht, unweit der Stadt Cawnpore. – Zuletzt sank

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