Seite:Die Gartenlaube (1858) 584.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

zeigte; dieser Stolz, der sich nicht um Formen und um Dienst, nicht um einen Fremden, nicht um die Schreiber kümmerte; dieser ungestüme Eifer, den jungen Freund zu beschützen, zu befreien; diese liebevolle, innige, hingebende Zärtlichkeit, die jeder Blick, jede Bewegung der Tochter des gestrengen Herrn Amtmanns für den kränklichen jungen Schreiber aussprach, das Alles war sehr seltsam, es war aber auch sehr ergreifend.

Und der Vater, der gestrenge und strenge Amtmann, unterwarf sich fast gehorsam den Forderungen, den Launen, den Eingriffen der Tochter! Welche eigenthümliche Verhältnisse lagen hier vor? Zwischen dem Mädchen und dem Schreiber! Zwischen dem Amtmann und den Beiden! –

Der Amtmann war taktvoll und vornehm genug, nach der Entfernung der Beiden kein Wort weiter über den Vorfall zu sprechen. Der Actuar kehrte etwas abgekühlt auf seinen Platz zurück.

Meine Besichtigung in der Kanzlei war zu Ende. Noch hatte ich für meinen besondern Zweck nichts gethan. Der kleine Zwischenfall hatte das Verlangen, ihn zu erreichen, lebendiger in mir gemacht. Ich mußte näher an ihn herantreten.

„Dürfte ich bitten, Herr Amtmann, mir auch die Gefängnisse des Amtes zeigen zu lassen? Ich interessire mich besonders für Criminal- und Gefängnißwesen.“

Er zeigte auch hier dieselbe Bereitwilligkeit.

„Ich freue mich, jenes Interesse von Ihnen zu vernehmen,“ sagte er. „Unsere Juristen überhaupt vernachlässigen die Criminalrechtspflege; besonders die jüngeren. Der Richter und Advocat können in Civilsachen mehr Scharfsinn und mehr Rechtskenntnisse geltend machen, sagen sie. Als wenn Richter und Advocaten nur darum, und nicht zum Schutze des Rechtes Aller, wie jedes Einzelnen, da wären, und als wenn nicht gerade die Strafrechtspflege den Schutz der höchsten Güter des Menschen zu ihrem unmittelbaren Zwecke hätte!“

Er ließ durch einen Diener, der uns begleitete, den Schließer herbeirufen, um uns in die Gefängnisse zu führen.

„Haben Sie viele Gefangene?“ fragte ich ihn unterdeß.

Er wußte die Zahl genau. Er nannte sie mir. Es waren einige dreißig.

„Sind schwere Verbrecher darunter?“

„Zur Zeit, Gott Lob, nicht. Die meisten sind kleine Diebe, Vaganten und dergleichen.“

„Es sitzt also auch wohl keiner von ihnen seit längerer Zeit?“

„Länger als ein halbes Jahr keiner.“

Es kam mir doch vor, als hätte ich bei der Antwort hinten in seinem Auge eine leise Spur von Mißtrauen gewahrt, das meine Frage geweckt haben mußte.

„Die verurtheilten Gefangenen,“ fuhr ich fort, „verbüßen ihre Strafe hier?“

„Mit Ausnahme schwerer Zuchthausstrafen.“

Ich mußte meinem Ziele näher kommen.

„Ich habe,“ sagte ich, „aus Ihrer Aeußerung vorhin geschlossen, daß Sie der Criminalrechtspflege ein besonderes Interesse widmen.“

„Gewiß,“ antwortete er. „Sie verdient es aus so manchen Ursachen. Von der Wichtigkeit der Güter, die sie schützt, sprach ich schon. Noch wichtiger ist mir der wohlthätige Einfluß, den der Criminalrichter auf den Verbrecher ausüben kann, wenn er sich daran gewöhnt, in diesem nicht mit der Menge einen verworfenen und verlorenen Bösewicht, sondern einen Unglücklichen zu sehen, den menschliches Behandeln, Mitleiden, Trösten und Belehren wieder aufrichten, wieder mit seinem Gotte, also auch wieder mit den Menschen versöhnen können.“

Er sprach das mit so wahrem und warmem Gefühle, daß ich mich beinahe der Umwege schämte, auf denen ich bei einem Manne von so edlen Gesinnungen zum Ziele kommen wollte. Aber jene Spur von Mißtrauen in seinen Augen hatte mich stutzig gemacht.

„Sie haben Recht,“ sagte ich, „darin liegt eine erhabene Seite des Berufes des Criminalrichters. Und dagegen kommt allerdings nur in untergeordneten Betracht ein anderes Interesse, das ich noch hervorheben möchte, Ich meine das psychologische.“

„O,“ entgegnete er; „es ist kein untergeordnetes. Nur der Criminalrichter wird seinem Berufe genügen können, der das menschliche Herz zu seinem Hauptstudium macht.“

Auf diesen Gegenstand hatte ich kommen wollen.

„Sie haben Wohl manche interessante psychologische Erfahrungen in Ihrer Praxis gemacht?“

„Welcher beobachtende Criminalrichter macht sie nicht!“

„Freilich wohl meist betrübende, der Heuchelei, der Simulationen aller Art, selbst des Wahnsinns –“

„Auch solche.“

„Auch des wirklichen Wahnsinns, von dem Verbrechen erzeugt?“

„Auch ihn habe ich kennen gelernt.“

„In neuerer Zeit?“

Die rasche Frage hatte ihn überrascht. Ich gewahrte wieder jenes Mißtrauen in seinem Auge. Ich war freilich etwas plump herausgeplatzt. Es wäre daher völlig verfehlt gewesen, wenn ich jetzt mein nächtliches Kirchhofsabenteuer hätte vorbringen wollen; ich mußte vielmehr für den Augenblick den Gegenstand des Gesprächs fallen lassen und konnte erst später wieder darauf zurückkommen.

Auch er hielt ihn nicht fest.

Mir fiel mein zweiter Zweck wieder ein, der Auftrag meiner Mutter. Ich fand kein Bedenken, die Frage nach der verschollenen Dame sofort vorzubringen, zumal da ich nicht die geringste Beziehung derselben auf den eben besprochenen Gegenstand sah.

„Darf ich mir eine völlig nicht hierher gehörige Frage erlauben?“ begann ich.

„Ich bitte.“

„Meine Mutter hatte mir den Auftrag gegeben, mich nach einer Jugendfreundin von ihr zu erkundigen, die hier wohnen soll. Im Städtchen konnte man mir keine Auskunft über sie ertheilen. Nettchen Thalmann ist ihr Tauf- und Geburtsname.“

Welche plötzliche Veränderung war mit dem ruhigen, kalten, gemessenen Manne vorgegangen! Sein Gesicht war leichenblaß geworden, seine Augen glanzlos. Aber welche Gewalt hatte der Mann über sich!

Mein Auge hatte die Veränderung seines Gesichtes kaum mit einem flüchtigen Blicke auffassen können, da stand er schon wieder in seiner vollen Ruhe und Kälte und Gelassenheit da.

„Ich erinnere mich des Namens ebenfalls nicht,“ antwortete er mit fester und gleichgültiger Stimme.

„Sie soll hier an einen Mechanikus verheirathet gewesen sein.“

Noch einmal schien es leise in ihm zu zucken; aber ruhig, wie eben, fragte er:

„Der Name des Mannes?“

„Er war eben meiner Mutter entfallen. Die beiden Eheleute sollen vor einigen zwanzig Jahren hierher gezogen sein.“

„Ich bedauere, Ihnen durchaus keine Auskunft geben zu können; ich bin seit mehreren zwanzig, seit beinahe dreißig Jahren hier und habe keine Erinnerung, welche paßte.“

In dem Augenblicke trat der herbeigerufene Schließer zu uns. Das Gespräch wurde dadurch unterbrochen. Ich hätte es ohnehin kaum fortsetzen können. Der Amtmann wollte offenbar meinen Fragen nach Nettchen Thalmann nicht Rede stehen; und er konnte es eben so offenbar. Welches Geheimniß lag da wieder vor? Welches, das ihn so heftig ergreifen konnte, daß der besonnene Mann so völlig, wenn auch nur auf einen Augenblick, die Herrschaft über sich verloren hatte? Und stand dieses neue Geheimniß mit jenem des Kirchhofes in Verbindung? Ich mußte es unwillkürlich denken. Die Phantasie bringt so gern Geheimnißvolles mit Geheimnißvollem in Verbindung.

Der Schließer war der riesige, baumstarke, alte Mann in dem weiten Kamisol und der Pelzmütze, den ich in der Nacht auf dem Kirchhofe gesehen hatte; ich erkannte ihn auf der Stelle wieder. Auch er erkannte mich. Ich hatte ihn erwartet, er mich nicht.

Sein erster Blick, als er mich erkannte, fiel auf den Amtmann, forschend, fragend, Alles mit einer gewissen Aengstlichkeit. Als er den Amtmann völlig ruhig sah, wurde auch er es wieder. Zugleich mußte er schnell einen Plan gefaßt haben.

„Schließer Kraus,“ sagte der Amtmann zu ihm, „führt uns in die Gefängnisse.“

„Zu Befehl, Herr Amtmann, Aber ich habe dem gnädigen Herrn Amtmann vorher eine Meldung zu machen.“

Ein von mir ungesehener Wink mußte diese Worte begleitet haben.

(Fortsetzung folgt.)




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 584. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_584.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)