Seite:Die Gartenlaube (1858) 600.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Amthause gegenüber, die Kirche, und hierauf neben dieser, dem Gefangenhause gegenüber, das Wirthschaftsgebäude vor sich sah.

Der hohe Speicher und die Kirche stießen mit ihren Rückseiten an den alten Klosterkirchhof, der zugleich ein Gemeindekirchhof gewesen war, jetzt aber gleichfalls nicht mehr gebraucht wurde.

Das Ganze war nach außen von einer hohen, dicken Mauer umschlossen, jedoch nicht überall. Die nach außen vorspringende Kirche stand frei; der Garten des Amthauses, unmittelbar hinter diesem gelegen, war nur mit einer dichten Taxushecke umgeben.

„Wohin befehlen der Herr Assessor zuerst?“ hatte mich der Schließer gefragt.

„Zu dem Speicher. Ihr habt doch die Schlüssel?“

„Zu Befehl.“

Er führte mich zu dem hohen Speicher.

Wir Beiden waren ganz allein; ich hatte keinem Dritten von der Besichtigung etwas gesagt und mußte auch bezweifeln, daß der schweigsame Schließer davon gesprochen hatte.

Der Speicher war ein altes Gebäude, noch aus den Zeiten des Klosters. Er hatte aber auch schon damals wohl nur seine heutige Bestimmung gehabt. Er bestand in allen seinen drei Stockwerken nur aus fast regelmäßigen, ungeheueren Räumen zur Aufnahme jener Naturalien. Es war jetzt September; sie waren beinahe sämmtlich gefüllt.

An einen geheimen Versteck konnte man hier kaum denken. Ueberall lagen die Mauern, so weit die Vorräthe nicht in die Höhe reichten, nackt und kahl da; nirgends ein Zeichen, daß eine geheime Thür, eine verborgene Treppe vorhanden sein könne.

„Zu der alten Kirche, Schließer!“

„Zu Befehl, Herr Assessor!“

Immer der gleichmäßig ruhige, feste Ton.

Wir gingen zu der Kirche. Speicher und Kirche stießen, wie gesagt, an den Kirchhof. Ersterer war nur durch die hinter ihm laufende Mauer davon getrennt und letztere grenzte unmittelbar daran. Beide lagen zehn Schritt von einander; den Zwischenraum trennte die Mauer gleichfalls von dem Kirchhofe.

In dem Speicher, in dem Zwischenraume, in der Kirche, nur in einem dieser drei Räume konnte der Ort oder der Eingang zu dem Orte sich befinden, an welchem ich vor sechs Jahren das Wehklagen gehört hatte. In dem Speicher hatte sich mir keine Spur eines Verdachtes gezeigt; auch jener Zwischenraum zeigte keine. Ich besichtigte ihn genau, ich leuchtete mit meiner Laterne überall hin; der Schließer mußte überall das Licht der seinigen hinfallen lassen. Der Boden bestand aus harter, fester Erde, die vielleicht seit Menschengedenken nicht aufgewühlt war. Die Steine der Mauer saßen fest, wie sie vor ein paar Jahrhunderten zusammengemauert waren.

„Schließt die Kirche auf, Schließer.“

Er schloß sie auf.

Die Kirche hatte, wie ich schon früher bemerkte, nach dem Kirchhofe hin zwei Thüren, ein großes Portal und ein Pförtchen, das, wie ich meinte, in die ehemalige Sacristei geführt hatte. Nach dem Kloster-, jetzt Amtshofe hin hatte sie ein zweites Portal, es hatte wohl den Haupteingang für die Geistlichen, für Processionen und andere kirchliche Feierlichkeiten gebildet. Weitere, als diese drei Thüren, waren nicht da.

In früheren Zeiten hatte ein bedeckter Bogengang unmittelbar aus einem oberen Stockwerke des Klosters auf ein verschlossenes Empor der Kirche geführt; er war nur für die Nonnen bestimmt gewesen. Seit Aufhebung des Klosters war er abgebrochen und der Eingang vermauert. Der Schließer Martin Kraus schloß das Portal am Hofe auf. Dabei machte mich ein Umstand stutzig. Das Schloß öffnete sich leicht; das Thor drehte sich ohne Geräusch in seinen Angeln. Es mußte also oft, auch in neuester Zeit aufgeschlossen sein. Dennoch war die Kirche außer allem Gebrauch.

„In wessen Gewahrsam befindet sich der Schlüssel zu der Kirche, Schließer?“

„Ich führe die Schlüssel zu allen Gebäuden.“

„Warum?“

„Ich bin der Schließer für Alles.“

„Kommt Ihr oft in die Kirche?“

„Zu Befehl.“

„In welchen Verrichtungen?“

„Ich lasse hier die Kleidungsstücke der eingebrachten Gefangenen reinigen. Der Ort ist am abgelegensten.“

Wir traten in die Kirche ein.

Es war eine gewöhnliche alte, verfallene, zum Theil absichtlich zerstörte Klosterkirche. Sie war nicht groß; sechs kahle, etwas plumpe Säulen bildeten das Schiff; das Chor mit dem Hochaltar war eine große, leere Nische; Emporbühnen, in denen früher hinter Gittern die Nonnen ihre Andacht verrichtet hatten, waren abgebrochen; einzelne Risse in der Mauer zeigten kaum noch an, wo sie sich befunden hatten. Ein Schmuck, nur eine Spur, daß irgend ein Kirchenschmuck vorhanden gewesen sein könne, war nirgends mehr zu sehen. In den hohen Bogenfenstern befand sich keine einzige Scheibe mehr; selbst die Fensterkreuze waren nur noch hin und wieder da. Das Ganze war so vollkommen zerstört, so nackt, so kahl, so vollständig prosaisch, daß selbst die schwache, ungewisse, schwankende Beleuchtung der beiden Laternen an dem späten Abende in dem ehemaligen Gotteshause keinen Eindruck, weder auf Gefühl, noch auf Phantasie machen konnte. Man sah sich eben nur in einem nackten, kahlen, wüsten Raume. Zum Ueberfluß waren im Chor ein paar Seile, wie zum Trocknen von Wäsche, aufgespannt; auf einem lag ein altes, zerrissenes Hemd.

Ich nahm mir nicht die Zeit, Betrachtungen über den Wechsel und Verfall der menschlichen Dinge anzustellen, auch der Gotteshäuser. Ich durchschritt, von dem Schließer gefolgt, die ganze Kirche und besah überall den Erdboden und die Mauern; weiter war freilich nichts da zum Besehen. Aber Mauern und Erdboden waren auch hier überall fest und hart, und wie seit Menschengedenken, vielleicht seit Jahrhunderten nicht gerückt und gerührt. Da konnte gleichfalls nirgends ein heimlicher, verborgener Versteck sein. Ich unterwarf zuletzt die beiden Thüren, die auf den Kirchhof führten, meiner Untersuchung.

Das große Portal, eine Flügelthür von altem, dickem, überall mit ungeheueren Nägeln beschlagenem Eichenholze, lag in festem Verschlusse. Auch von innen zeigten zahllose Spinnengewebe, wie lange sie nicht könne geöffnet gewesen sein.

„Habt Ihr den Schlüssel zu der Thür, Schließer?“

„Es ist kein Schlüssel für sie da.“

Wir gingen zu dem kleinen Pförtchen. Es führte nicht, wie ich vermuthet hatte, in die ehemalige Sacristei, sondern in eine ehemalige Seitencapelle der Kirche, die auch nach innen mit dieser durch eine jetzt zerstörte Thür verbunden war. Wir traten in die Capelle. Sie war kahl und nackt, wie die Kirche; Boden und Mauern darin waren fest und hart, wie in dieser.

Ich untersuchte die Thür, jenes auf den Kirchhof führende Pförtchen. Von außen war es mit Bretern beschlagen gewesen; so war es auch von innen der Fall. Aber ich berührte eins dieser Breter. Ich faßte es stark an, drückte und schob daran, und auf einmal war es mir, als wenn es nachgebe, als wenn es sich schieben lasse. Nur ein wenig, nur sehr wenig; aber es gab doch nach, es wich doch zur Seite, wenn ich auch meine Hand sehr anstrengen mußte. Das war mir ein wichtiger Fund; aber ich durfte mir nicht merken lassen, daß ich ihn gemacht hatte. Freilich konnte ich deshalb auch meinen Begleiter nicht ansehen und nicht gewahren, ob er meinen Fund bemerkt und welchen Eindruck er auf ihn gemacht hatte.

Als ich mich nach einer Weile, wie zufällig, nach ihm umwandte, bemerkte ich nicht die mindeste Veränderung an ihm.

„Auch dieses Pförtchen wird nicht gebraucht?“ fragte ich ihn, gleichgültig, wie ich die anderen Fragen an ihn gerichtet hatte.

„Nein,“ antwortete er nur ruhig, wie er mir immer geantwortet hatte.

Ich war mit meinen Besichtigungen zu Ende. Es war keine Stelle mehr zu untersuchen, welche möglicher Weise mit meinem früheren nächtlichen Abenteuer hätte in Verbindung stehen können.

Ich trat meinen Rückweg an.

Ich hatte nichts Verdächtiges gefunden, als jene verschiebbaren Breter an dem Capellenpförtchen; aber wie gering, wie entfernt, wie unbestimmt war der Verdacht!

Der Schließer war ohne alle Unterbrechung ruhig, unbeweglich geblieben.

Sollte ich ihn nicht doch noch überraschen können, um nur eine einzige verräterische Veränderung seiner Mienen aufzufangen?

(Fortsetzung folgt.)




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 600. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_600.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)