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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

„Ich kann es Dir nicht sagen. Aber sage Ja zu meiner Bitte. Ich habe nur noch kurze Zeit zu leben. Dann folge ich Deinem Vater. Dann – Sage Ja, Rosa, daß Du mich immer lieb behalten willst. Gib mir die Hand darauf.“

„Immer, immer, Karl. Hier hast Du meine Hand. Ich werde Dich nie verlassen.“

Sie schwiegen und drückten sich wohl stumm die Hände.

In stummer Liebe?

Nicht weit von ihnen wurde leise eine Thür geöffnet.

„Mamsell Rosa,“ flüsterte eine männliche Stimme in den Gang hinein.

„Hier bin ich,“ antwortete das junge Mädchen.

Die Thür wurde leise in das Schloß gelegt. Dann sagte die Stimme: „Der Herr Amtmann haben mir befohlen, schleunig den neuen Herrn Assessor herzubitten. Ich soll auf der Stelle gehen.“

Das junge Mädchen schien sich einen Augenblick zu besinnen. Darauf sagte sie:

„Gut, Friedrich, gehe. Ich werde zum Vater zurückkehren. Führe aber den Herrn Assessor nicht gleich in das Krankenzimmer, sondern in den blauen Saal. Ich möchte ihn vorher sprechen.“

Das hörte ich noch. Es blieb mir, in der allerdings traurigen Rolle, die ich einmal übernommen hatte, nichts übrig, als mich so eilig und leise wie möglich zurückzuziehen. Ich that das, und verrieth mich nicht. Ich verließ unbemerkt das Haus und den Hof. Draußen vor dem Hofthore kehrte ich um, als wenn ich aus der Stadt komme. Ich ging wieder auf das Amthaus zu.

Mitten im Hofe begegnete mir ein Bedienter mit einer Laterne. Er erkannte mich und blieb vor mir stehen.

„Ich war gerade auf dem Wege, um den Herrn Assessor zu dem Herrn Amtmann zu bitten.“

Es war die Stimme des Friedrich, der mit der Tochter des Amtmanns gesprochen hatte.

„Mich?“ antwortete ich. „Und ich bin auf dem Wege, um mich nach dem Befinden des Herrn Amtmanns zu erkundigen“

„Es geht dem guten Herrn sehr schlecht. Ich fürchte, daß er die Nacht nicht überlebt, obgleich sie Alle im Hause das Ende noch nicht so nahe erwarten.“

Ich ging mit ihm in das Haus. Er führte mich in einen blauen Salon und bat mich, einige Augenblicke zu verziehen, er wollte mich ankündigen.

Was wollte der Amtmann von mir? Was seine Tochter?

Nach einer Minute erschien das junge Mädchen. Das Kind, das ich vor sechs Jahren gesehen hatte, war zu einer vollblühenden Jungfrau geworden, und in den schönen Zügen sprachen sich Geist und Herz aus. Angst und Sorge um den kranken Vater hatten zwar für den Augenblick die Wangen etwas gebleicht. Sie war nur um so schöner. Sie wurde nicht verlegen, als sie mich wiedersah. Sie hatte etwas Schweres auf dem Herzen, das sie über eine kleinliche Verlegenheit erhob.

„Mein Herr,“ sagte sie, „mein kranker Vater wünscht Sie dringend zu sprechen. Er hat mir nicht gesagt, was er Ihnen mitzutheilen hat. Es muß ein schweres Geheimniß sein. Aber was es auch sei, darf ich zu Ihnen vertrauen, daß Sie meinem armen Vater seine letzten Stunden nicht schwer machen, und daß Sie –“

Sie konnte vor plötzlichem Schluchzen nicht weiter sprechen. Erst nachdem sie sich gesammelt hatte, fuhr sie fort:

„Und daß Sie stets meines Vaters Ehre schonen werden? Darf ich Sie darum bitten, mein Herr?“

„Mein Fräulein,“ erwiderte ich ihr, „mein Thun wird Ihnen beweisen, daß es Ihrer Bitten bei mir nicht bedurfte. Sie sind mir dennoch heilig, als die Bitten eines edlen, treuen Tochterherzens.“

„Sie beruhigen mich, mein Herr. Wie danke ich Ihnen!“

Sie führte mich zu dem Zimmer des Kranken. An der Thür blieb sie zurück. Ich war mit dem kranken Amtmann allein.

In dem Zimmer brannte nur eine Nachtlampe hinter einem Schirme. Es war kaum ein Dämmerungslicht, das die Stube erhellte. Der Kranke lag in einem mit Vorhängen versehenen Bette. Die Vorhänge waren zurückgeschlagen. Ich konnte gleichwohl in dem Halbdunkel seine Züge nicht erkennen. Nur seine Stimme erkannte ich wieder, wie matt, wie gebrochen, wie den Tod ankündigend sie auch schon war.

„Sie sind der Herr Assessor –?“ fragte er mich.

„Ich bin der Assessor –, vom Ministerium mit Ihrer einstweiligen Vertretung betraut.“

„Einstweilig?“ sagte er schmerzlich.

Aber er verweilte bei dem Gedanken nicht.

„Setzen Sie sich zu mir, Herr Assessor; hier nahe an mein Bett. Ich habe Sie zu einer dringenden Unterredung bitten lassen.“

Ich setzte mich an das Bett.

Er hatte gefaßt gesprochen. Seine Fassung schien mir aber eine etwas mühsam gemachte zu sein.

„Vorher eine Frage,“ fuhr er fort. „Sie waren schon einmal hier, vor ungefähr sechs Jahren?“

„Sie hatten damals die Güte, mich mit den geschäftlichen Einrichtungen des Amtes bekannt zu machen.“

„Dann noch eine Frage: Sie haben heute die sämmtlichen Geschäfte des Amtmanns übernommen?“

„Die sämmtlichen.“

„Sie haben dabei –?“

Er stockte. Gleich darauf fuhr er fort:

„Sie hatten vor sechs Jahren gegen den Schließer Kraus einen gewissen Verdacht gezeigt?“

„Ich glaubte, dazu Veranlassung zu haben.“

„Haben Sie heute denselben Verdacht gegen ihn geäußert?“

„Ich weiß es nicht –“

„Sie haben, ich weiß es. Aber etwas Anderes wünschte ich zu wissen. Haben Sie heute irgend eine Entdeckung gemacht, die Ihren Verdacht hätte bestätigen können?“

„Eine thatsächliche – nein.“

„Und der Schließer Kraus hat sich davon überzeugt?“

„Er kann wenigstens nicht das Gegentheil wahrgenommen haben.“

Der Kranke hatte die letzten Fragen mit einer gewissen ängstlichen Spannung ausgesprochen, die er wohl vergebens zu verbergen gesucht hatte. Meine Antwort schien ihn zu beruhigen.

„Wohl,“ sagte er, „so drängt die Zeit nicht.“

Ich begriff nicht, was er damit sagen wollte; ich hatte aber auch keine Veranlassung, ihn zu fragen.

Hätte ich ihn gefragt!

Er fuhr fort. Seine Stimme zeigte wieder jene gewaltsam erzwungene Fassung.

„Herr Assessor, ich habe Ihnen ein schweres Geheimniß zu entdecken. Ich muß es, um ruhiger sterben zu können, denn der Tod steht hinter mir; aber auch, um ein neues Unglück, ein neues Verbrechen zu verhüten. Ich bitte Sie, mich ruhig anzuhören.

„Ich wurde als junger Mann von fünfundzwanzig Jahren Vorstand des hiesigen Amtes. Ich hatte Verbindungen in der Residenz. Ich war rasch befördert. Ich war leichtsinnig, liebte ein angenehmes Leben und scheute die Arbeit. Am Amte ließ ich die andern Beamten arbeiten, auch für mich. So wurden bald alle Geschäfte vernachlässigt, am meisten die meinigen. Dabei war ich strenge gegen die Unterthanen. Sie fürchteten mich. Es wurden daher nach oben keine Klagen gegen mich laut. Es gab daher auch von oben her keinen Richter gegen mich. Ein pünklicher Cassenvorstand war hier. Er sorgte für die Einnahmen des Amtes, für ihr Eingehen, für ihr Absenden nach oben. Das hielt das Amt. Um Weiteres bekümmerte man sich in der Residenz nicht; nicht, ob die Gerichtseingesessenen ihr Recht erhielten, nicht, ob die Gefangenen Jahre lang unverhört in den Gefängnissen schmachten mußten. Bald nach oder kurz vor meiner Ankunft hier war ein fremder Mechanikus nach Z. übergesiedelt. Er war verheirathet. Seine Frau hieß Antoinette Thalmann, jene Freundin Ihrer Mutter, nach der Sie mich vor sechs Jahren fragten. Der Mann hieß Brunner.“

Welches Licht schienen mir auf einmal die paar Namen zu geben! In welches Dunkel sah ich doch nur noch immer!

Der Kranke fuhr fort:

„Der Mechanikus Brunner war ein fleißiger, stets arbeitsamer Mann; er war, wie man sagt, ein Genie, und zwar ein unglückliches Genie. Er machte hundert neue Erfindungen, unternahm hundert neue Sachen, aber keine schlug ein, keine glückte ihm, und er kam in seinem Hauswesen immer mehr und mehr zurück. Nach einiger Zeit waren auf einmal falsche brabanter Kronthaler in der Gegend verbreitet. Sie waren von unbekannten Menschen ausgegeben. Aber man hatte die unbekannten Menschen bei dem Mechanikus Brunner sich ein- und ausschleichen sehen; als man näher nach ihnen forschte, waren sie verschwunden. Brunner hatte unterdeß angefangen, besser zu leben.

„Schon damals entstand der Verdacht gegen ihn, daß er mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 611. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_611.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)