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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 44. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Maiblumen.

Die weite Stadt auf nacktem Fuße
Durchwandert sie von Haus zu Haus
Und bietet scheu mit blödem Gruße
Des Lenzes liebste Kinder aus:
„Maiblumen kauft! Kauft aus Erbarmen,
Auf Stroh der Vater sterbend liegt,
Die Mutter auf den welken Armen
Ein schmachtend Kind in Thränen wiegt!“

Ist das des Frühlings erstes Grüßen,
Ein Weheschrei der bittern Noth?
Sie feilscht mit seinem Duft, dem süßen,
Um einen Bissen trocken Brod;
Maiglöckchen, Perlen, die voll Liebe
Der Braut in’s grüne Haar er flicht,
Wie, darum sproßten eure Triebe,
Daß ein verhungernd Kind sie bricht?!

Und dieses Kind – die zarten Glieder
Verhüllen schlechte Lumpen kaum,
Das blaue Auge spiegelt wieder
Des jungen Lenzes schönsten Traum.
Die Locke schließt mit goldnem Rahmen
Ein rührend Bild der Unschuld ein,
Und selber rufst Du Deinen Namen,
Du Maienblume zart und rein.

Der Mutter Wangen, hohl und mager,
Verblichen in der dumpfen Luft,
Den Vater auf dem Sterbelager
Umwehest Du mit frischem Duft,
Und wie vom Hauch des Abendwindes
Das Maienglöckchen sanft erklingt,
So tönt’s um sie, wenn ihres Kindes
Gebet sich auf zum Himmel schwingt.

Die zarte, lenzentsproßte Blüthe,
Die Gott so hold und rein erschuf,
Daß treu sein Auge Dich behüte,
Mitleid erwecke Dir Dein Ruf:
„Maiblumen kauft! Kauft aus Erbarmen,
Auf Stroh der Vater sterbend liegt,
Die Mutter auf den welken Armen
Ein schmachtend Kind in Thränen wiegt!“

Albert Traeger.




Ein Kirchhofsgeheimniß.
Mitgetheilt vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Schluß.)


„Es lebte aber noch ein anderer Verdacht. Jener Sohn des Unglücklichen mußte von seiner sterbenden Mutter Worte vernommen haben, die ein entsetzliches Mißtrauen in sein Herz gepflanzt hatten. Er verschloß die Worte, er verschloß das Mißtrauen in sein Inneres. Aber mancher späte Abend, manche stille und manche stürmische Nacht sah ihn auf dem Kirchhofe einem Geheimnisse nachspüren, das er nicht ergründen konnte, dessen Dasein ihm aber eine fürchterliche Gewißheit war. Indessen er konnte es nicht ergründen, und hätte er es auch vermocht, seine fast krankhafte Liebe zu meinem Kinde hätte es stets in seinem Herzen verschlossen gehalten.

„So konnte ich sicher leben, sicher vor jeder Entdeckung. Martin Kraus war der treueste Mensch von der Welt. An seinen Tod dachte ich nicht. Aber ich lebte nicht ruhig. Der Mensch hat tausend Mittel, durch die er sein mit Schuld beladenes Gewissen zu beschwichtigen sucht. Kein einziges kann es ihm beruhigen. Und vor Allem hatte ich nicht an meinen Tod gedacht. Er steht seit einigen Tagen an meinem Bette. Heute habe ich ihn erkannt.

„Ich kann mein Herz nicht mehr von seiner Schuld befreien, ich muß sie mit mir hinübernehmen vor den ewigen Richter, denn ich glaube an ihn.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 621. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_621.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2018)