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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Räthin nun in vollen Zornesflammen, indem sie ihre Mantille fester um sich zog und sich anschickte, das Zimmer zu verlassen. „O, hätte ich das vor dreißig Jahren geahnt!“ Sie schlug die Thür ziemlich unmanierlich zu und eilte die Treppe hinab.

Braunstein sah nachdenklich vor sich nieder. Er versuchte, seine Zerstreutheit Herr zu werden, um den Zusammenhang in dieser Scene zu finden.

„Was ist es nur wieder?“ murmelte er, aber sein bedeutungsvolles Kopfschütteln bekundete, daß er sich vergeblich nach einem leitenden Faden in diesem Labyrinthe umsah. Bald überschlich ihn wieder die Fluth seiner Geschäftsthätigkeit und er vertiefte sich ohne Gewissensbisse in seine Arbeit.

Während dieser Zeit wanderte die zornige Appellationsgerichtsräthin, äußerlich graziös und vollendet elegant, die Straßen hinab, die zur Eisenbahn führten, empfing huldvoll die Grüße der jungen und alten Officiere, welche en grande tenue von der Parade kamen, und schlug dann seufzend den schmalen Weg zwischen den Gärten ein, der bei dem Perron auslief.

Jetzt erst fielen ihre Gedanken mit erneuerter Bitterkeit auf die eben erlebte Scene mit ihrem Gatten zurück.

„So geht es,“ dachte sie, ärgerlich ihren Schritt beschleunigend, denn die Locomotive signalisirte in der Ferne, „so geht es, wenn man durch die Märchen der Kinderwelt auf Irrwege geräth und in dem ersten Manne, der uns nahe tritt, das Ideal seiner Träume anbetet! Elf Jahre habe ich nach dem Zeitpunkte geschmachtet, der mich zu dieses Mannes Gattin erheben konnte – elf Jahre war ich eine zärtliche, eine treue Braut, um dann nach und nach die unglücklichste Frau zu werden.“

Ihre Gedanken durchliefen pfeilschnell den weiten Zeitraum, den sie hinter sich hatte. Mit phantastischen Begriffen von Liebe und Glück war sie in die Welt getreten und hatte, vermöge ihrer liebenswürdigen Persönlichkeit, die Liebe eines schönen, vielversprechenden Studenten errungen, der sie unter der Aussicht, „dermaleinst Assessor zu werden“, sogleich zu seiner Braut machte. Nach elf vollen Jahren war sie dann ihres hübschen Eduard Braunstein Gattin geworden, um gleich darauf zu der Ueberzeugung zu kommen, daß ihr Mann mehr zu thun hatte, als sie für ihr Liebes- und Lebensglück zuträglich hielt. Er hatte nicht Zeit, mit ihr die Modehandlungen zu durchstreifen, er hatte nicht Zeit, sie Parade zu führen und als gehorsamer Diener bereit zu stehen, wenn sie einen Spaziergang für nothwendig hielt. Zuerst frappirte sie dieser Umstand, dann aber fand sie sich darein und suchte ihr Vergnügen auf anderen erlaubten Wegen. Sie spielte mit Geschick die Musterdame der Mode, vergaß aber dabei, daß sie zu alt für jugendliche Moden wurde. Kleine Spöttereien ihres Mannes ignorirte sie und weiter verstieg sich der Rath Braunstein nicht, wenn er auch innerlich unzufrieden über die Geistes- und Geschmacksrichtung seiner Gemahlin war. Von Natur zur Zerstreutheit und Vergeßlichkeit geneigt, bildete sich diese Naturanlage im Laufe der Zeit und unter der Einwirkung der Verhältnisse bis zum Fehler bei ihm aus und zeigte sich namentlich, zum größten Leidwesen der Räthin, in Rücksicht auf gesellige Verhältnisse, denen sie eine ungeheuere Wichtigkeit beizulegen pflegte. Seine Beschäftigungen, zu abstract von den kleinlichen Dingen, die seine elegante Gemahlin zu ihrem Götzen erhoben hatte, rissen nach und nach eine Kluft zwischen den Gatten, die sich außerdem keineswegs haßten, denn kleine Anfälle von Heftigkeit abgerechnet, mußte man der Räthin Braunstein zur Ehre nachsagen, daß sie sich wunderbar gut mit ihrem Eheherrn zu stellen wußte. Freilich aber wurde sie dabei unterstützt von der unausbleiblichen Folge fortgesetzter Zerstreutheit, die zuletzt in Indolenz übergeht, um sich ein gewisses Ungestörtbleiben zu sichern.

Eine halbe Stunde nach der unwillkommenen Störung warf der Rath, tief aufathmend, die Feder auf das Schreibzeug.

„Das war ein schweres Stück Arbeit,“ murmelte er vor sich hin, indem er nach dem Cigarrenkasten griff, um sich mit einer Havanna zu belohnen. „Lieber will ich mich mit einer Legion Feinde herumcapituliren, als diplomatisch die Grobheit einer Zurückweisung Freunden gegenüber zu bemänteln.“ – Er spitzte die Cigarre ab, brannte sie an und murmelte weiter: „Ja, wenn es sich der Mühe lohnte, noch vorwärts zu streben! Warum aber sollte ich wohl die bequeme Bahn zum Alter verlassen, um mich durch den Wellenschlag der Fürstengunst auf eine Höhe schleudern zu lassen, wo ich ebenfalls, wie hier, allein stehe? Ja, wenn ich Söhne hätte – !“

Er trat langsam an’s Fenster und blickte zerstreut und sinnend hinab auf die Straße. Seine Phantasie hing noch immer an dem Berichte, den er, in Folge einer Privatanfrage des Ministers, so eben zu Stande gebracht, nachdem er ihn, unschlüssig, seit mehreren Tagen verschoben hatte.

Mechanisch richtete er das Auge auf zwei Damen, die über den Straßendamm fort auf sein Haus zusteuerten. Es war seine unglaublich elegante Frau – er erkannte sie sogleich an dem Ueberflusse von Spitzen, Band und Blumen. Wer aber war die andere Dame? Kopfschüttelnd verfolgte er mit den Blicken beide Frauengestalten, bis endlich die Begleiterin der Räthin den Kopf emporhob und ein liebes Gesicht zu ihm emporschaute. Wie ein Blitzstrahl erleuchtete plötzlich die Macht der Erinnerung sein Inneres.

Jetzt wußte er, was der Zorn seiner Gattin zu bedeuten gehabt hatte. Wahrlich, sie hatte Ursache dazu gehabt! Ein herzlich frohes Lächeln zog wie Sonnenleuchten über des Mannes Züge.

„Himmel, meine Hermine!“ rief er laut und eilte mit jugendlicher Lebhaftigkeit der Treppe zu, um seine Tochter im Ausbruche einer leidenschaftlichen Freude des Wiedersehens stürmisch zu umarmen. Unter der Wärme reuiger Zärtlichkeit klagte er sich dabei zum ersten Male einer unverzeihlichen Vergeßlichkeit an und bot seiner schmollenden Gattin bittend die Hand zur Versöhnung.

Sie verweigerte ihm dieselbe nicht, aber sie nahm doch kluger Weise die Gelegenheit wahr, ihm in haarscharfen Worten sein Unrecht gegen sie und sein einziges Kind im Allgemeinen und Speciellen vorzuhalten.

Rath Braunstein lachte in seiner herzgewinnenden Weise und räumte für’s Erste Alles ein. Es war richtig, daß er, von der Rückkehr seiner Tochter unterrichtet, fest versprochen hatte, mit der Räthin nach der Eisenbahn zu gehen, aber er wendete ein, daß es ebenfalls ein Versehen von dieser gewesen sei, ihn „vor dem Beginne ihrer großen Empfangstoilette“ nicht nochmals an diese Familienbegebenheit zu erinnern, da er durchaus „keine Zeit habe“, an dergleichen Dinge zu denken.

Die Räthin ließ den Einwand nicht gelten. Sie meinte, sein Vaterherz müsse ihn an solche Dinge erinnern. Was die Leute nur davon denken sollten, daß er ruhig am Schreibtische säße, während sie allein hingeeilt sei, ihre Tochter nach monatelanger Abwesenheit wieder zu umarmen.

Ein eigenthümliches Lächeln, von einem schnellen Blicke über ihre ganze Gestalt hin begleitet, verrieth deutlicher, als er selbst dachte, daß er im Stillen meinte, sie mache Staat mit ihrer Mutterliebe und das Töchterchen habe vielleicht den einfachen Vater selbst nicht so nöthig zum Empfange gefunden, als die prunktreibende Mutter.

Hier lag die Tragik seines Alltagslebens, welches den leise bohrenden Wurm innerlicher Verstimmung in sich verbarg. Nachdem er mit einigen schwachen Versuchen, seine junge Gattin zur Theilnehmerin edlerer Interessen zu gewinnen, früher gescheitert war, wendete er sich mit Hoffnung seinem einzigen Kinde zu, das ihm von der Natur hinreichend günstig ausgestattet erschien, um neben ihm zu wandeln.

Auch diese Erwartung scheiterte. Hermine Braunstein wurde der Affe ihrer modernen Mutter und opferte bereitwillig die schönen Gaben der Natur gegen die Triumphe der Aeußerlichkeit.

Als der Rath Braunstein diese Erfahrung gemacht hatte, quittirte er seelenruhig seine Lebensfreuden, warf sich mit regem Eifer seinem Berufe in die Arme und verlor natürlich von da an jedes tiefere Interesse für seine Familie. Hundert andere Männer mußten die Träume ihrer Jünglingsjahre von „Familienglück“ begraben, weshalb sollte er nicht versuchen, sich bei dem traurigen Schicksale seiner Vereinzelung durch andere Lebensgenüsse schadlos zu halten? Er wählte, seiner edlen Natur zu Folge, die Bahn der Wissenschaften, um sein Alleinstehen zu verträumen. Dadurch verfiel er natürlich mehr noch, als früherhin, seiner Neigung zur Vergeßlichkeit, aber gleichzeitig gewann er auch dadurch eine Bedeutung in der juristischen Welt, wovon er nicht eher etwas ahnte, als bis ihm Anträge vom Ministerium gemacht wurden, die einen mehr ehrgeizigen Mann in Entzücken versetzt hätten. Er aber lehnte, seiner Gemüthslethargie vollen Spielraum lassend, alle Vorschläge ab, obwohl sie den sichersten Weg zum Chefpräsidenten irgend eines Obergerichtes in Aussicht stellten.

Man beruhigte sich nicht bei dieser abschläglichen Antwort, denn man konnte das Wissen und die Theorien eines Juristen, wie Rath Braunstein, gerade gebrauchen. Der Minister, von früherer Zeit

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