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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

den Vorschlag laut. Schon wollte der Landammann die Abstimmung vornehmen lassen.

Da erhob sich ganz, ganz hinten auf dem Bretergerüste ein altes, graues, dürres Bäuerlein.

Es hatte sich lange Zeit verwundert umgesehen, ob denn Keiner ein Wort gegen die Sache habe, die ihm nicht gefallen zu wollen schien. Keiner hatte ein Wort unter allen den sieben- bis achttausend Männern rund um den alten Mann. Aber dafür hatte jetzt das alte Männlein kernige und körnige Worte.

„Herr Landammann, meine Herren von der Regierung und meine lieben Mitlandleute,“ erhob es sich, wie es die Form der Sitte und des Herkommens erheischte. Und es bat die „liebe Landslüt’,“ daß es seine Meinung über die Sache sagen dürfe. Es sei zwar nur ein „einfältig Hirtenmännli“ hinten aus dem Gebirge, und es wisse nicht den hundertsten Theil von allem dem, was die gelehrten Herren im Hauptort Glarus, und all’ die reichen und vornehmen Fabrikherrn des Landes in und außer dem Lande gelernt hätten. Aber er habe doch auch so seine Gedanken, auch in dieser Sache, über die „Hündli.“ Alle jene Herren mochten sich recht viele Hündli halten können, für ihr Plaisir, und die Steuer möge für sie auch eine geringe sein. Das sei aber wohl nicht so für manche andere Leute im Canton. Ihm zum Beispiel sei sein Hündli sein Freund, und einen Freund müsse der Mensch haben. Und er könne seinen Freund nun einmal gar nicht gut entbehren, denn er wohne hinten im einsamen Gebirge, viertausend Fuß hoch und noch höher, und auf eine halbe Stunde rund um ihn herum wohne kein anderer Mensch. Und wenn nun, nach dem Sinne der gelehrten und reichen Herren, die Hundesteuer eingeführt werden solle, die er, als ein armer Hirtenmann, nicht bezahlen könne, so müsse er sein Hündli „wirklich“ abschaffen, und er habe da oben in seiner Einsamkeit keinen Freund und keinen Beschützer mehr. Und wie ihm, so ergehe es gewiß manchem seiner braven „Mitlandslüt’“. Und – darauf schloß das Männlein – so sei denn seine Meinung an den Herrn Landammann, und an seine hochgeachteten Herren von der Regierung und an seine lieben Mitlandleute:

„Lasset die Hündli leben!“

Und da – ja, die Glarner sind das lebhafteste Völkchen der Deutschen Schweiz – da riefen auf einmal Tausende und Tausende von Stimmen:

„Lasset die Hündli leben!“

Und die regierenden Herren wußten nun schon, bevor sie das „Mehr“ aufnehmen ließen, wie es ausfallen werde, und als sie es aufnehmen ließen, fiel ihr Antrag gegen eine große Mehrheit.

Ich habe Ihnen Wort gehalten, lieber Keil. Die erste Landesgemeinde seit Ihrem Hiersein war vorgestern, am Sonntag, den dritten October, im Appenzellerlande, und ich bin hingereist, und habe ihr beigewohnt, und setze mich heute hin, sie Ihnen zu beschreiben.

Theile ich Ihnen dabei zugleich Manches mit, was nicht strenge und nicht unmittelbar zur Sache gehört, so halten Sie und Ihre Leser es ja wohl einem Manne zu gut, der in seinen älteren Tagen noch ein Stück von einem deutschen Professor geworden ist; ein deutscher Professor kann nun einmal nicht wohl anders, als in die einfachste Sache hundert andere Sachen hineinbringen; er nennt das: seinen Gegenstand gründlich nach allen Seiten erschöpfen.

Zuerst lassen Sie mich Ihnen Einiges von meiner Reise erzählen. Es gehört vielleicht mit zur Sache, wenigstens in jenem Sinne des deutschen Professorenthums.

Ich reiste am Sonnabend von Zürich ab. Das Wetter war anfangs zweifelhaft, aber in Herisau, dem Hauptorte von Appenzell-Außerrhoden, wo ich übernachtete, prophezeite man zum folgenden Tage gutes Wetter. Und so traf es ein. Am andern Morgen um sechs Uhr weckte mich Musik. Ich sah zum Fenster hinaus. Der Himmel war klar, auf den Spitzen der Berge rund umher kündigte sich mit goldnem Glanze die Morgensonne an.

Die Musik durchzog bis sieben Uhr den Flecken Herisau; sie war zur Feier des Tages, der Landesgemeinde, des jährlichen wichtigsten politischen Tages im Lande. Es war die Musik des Cadettencorps des Orts.

Des Cadettencorps? fragen Sie und Ihre Leser! Doch nein. Da fällt mir eben ein, daß ja unser Freund Roßmäßler vor einigen Jahren in der Gartenlaube mitgetheilt hat, was Cadetten und Cadettencorps in der Schweiz sind. Vielleicht mache ich Sie und Ihre Leser ein andermal noch näher damit bekannt.

Um sieben Uhr machte ich mich von Herisau auf den Weg nach Hundwyl, wo die Landesgemeinde sich versammelte. Hundwyl ist ein altes, kleines Dorf, starke anderthalb Stunden (Schweizer-Stunden) von Herisau entfernt. Welch’ ein schönes Stück der Erde, welch’ ein schönes Stück Schweizerland sah ich da!

Die Sonne war goldenklar aufgegangen, wie sie sich angekündigt hatte. Keine Wolke war am Himmel, kein Nebel in der Luft. Nur hin und wieder hatten einzelne feine, schneeweiße Nebelstreifen an den Rand wie Berge sich gelagert, oder in eine Felsschlucht sich zurückgezogen.

In diesem klaren Sonnenmorgen lag das schöne Land da, Berg an Berg, Thal an Thal. Und Alles bedeckt mit den frischesten, grünen Matten. So weit das Auge reichte, grüne Weide, grüne Alpen, bis oben zu den Kämmen und Spitzen der Berge hinan, wo Tannen und Fichten und Birken sich anschlossen. Und wie voll, wie reich, wie üppig waren diese Matten!

Und überall waren sie wie besäet mit den frischen, braunen Bauernhäusern und den grauen Sennhütten. Und überall sah man das schöne, bunte Vieh grasen. Ueberall bis zu jenen mit den Tannen und Birken bedeckten Kämmen und Spitzen der Berge hinan, hörte man das Geläute der Glocken und Glöckchen, die die schönen Thiere trugen. Dazwischen das Geläute der Glocken von den fernen Thürmen der Dörfer, bald in der Tiefe der Thäler, bald von den Höhen der Berge.

Und nun die Menschen! Aus allen den Häusern traten sie heraus, auf allen Wegen und Pfaden, die von den grünen Alpen, durch die üppigen Matten führten, sah man sie herniedersteigen und weiter schreiten. Nur Männer! Die Frauen und Kinder sahen ihnen aus den Häusern nach oder geleiteten sie einige Schritte. Alle waren festlich gekleidet, Alle in stiller, gemessener, feierlicher Haltung. Die Männer gingen zur Landesgemeinde!

Und über dem Allem schien die Sonne so warm und so klar, war der Himmel so heiter, so hell, so frei!

Es war ein wundervoller Sonntagmorgen. So schön habe ich noch keinen in der Schweiz erlebt; noch keinen in meinem Leben. Ach, mußte ich unwillkürlich denken, wärst du doch jetzt erst sechzehn Jahre alt, anstatt beinahe sechzig! Den Sonntag vergäßest du in deinem ganzen Leben nicht, und er thäte dir gut für dein ganzes Leben, noch nach sechzig Jahren! So ein schöner, klarer, sonniger Sonntagmorgen in Gottes freier großer Natur ist etwas Werth für das Leben.

Und frei und groß ist Gottes Natur in dem schönen Appenzellerlande. Diese sanft sich windenden Thäler, diese endlosen weichen Matten, diese reichen Alpen bis an die Spitze der Berge hinanreichend; diese hohen Berge, einer immer höher, als der andere, und über ihnen allen hervorragend der Säntis, der Bergriese des Appenzellerlandes! Dann plötzlich ein tiefer Riß durch die Berge, eine breite, weite Furche. Unten tief aus dem Grunde die Spitzen ungeheurer Bäume bis zu unseren Füßen heranreichend. Unter ihnen, an den Wurzeln ihrer Stämme ein helles, hastiges Rauschen. Auf einmal vor uns ein schmaler Steg, unter uns eine breite bedeckte Brücke. Wir sind an einer Schlucht, durch die der Rothbach sich drängt, die Sitter sich mühsam eine Bahn erkämpft, die wilde Urnäsch stolz und trotzig und gewaltsam die hohen Berge, die harten Felsen zerspalten und zerbrochen hat, um im schmalen, finsteren Bette fort und fort ihre grollenden Wellen weiter zu wälzen.

Am schönsten war der Anblick, als wir, nach Zurücklegung stark des halben Weges von Herisau nach Hundwyl eine neue bedeckte Brücke über die Urnäsch überschritten und jenseits auf steilem, manchmal keine zwei Fuß breitem, immer an dem tiefen Abgrunde entlang führendem Felsenpfade jenseits die Höhe des nächsten Bergkammes erreicht hatten.

Auf derselben Höhe mit uns, nur wenig tiefer, lag das Dorf Hundwyl, das Ziel unserer Reise, der diesjährige Versammlungsort der Landesgemeinde.

Rund um das Dorf herum erhoben sich höhere Berge. Wie es zwar oben auf einer Bergeshöhe lag, so lag es so dennoch in einem Kessel von Bergen vor uns.

Und von allen diesen Bergen liefen Pfade herunter nach dem Dorfe zu, und eben diese Pfade konnten wir übersehen. Und alle

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