Seite:Die Gartenlaube (1858) 679.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

mitten in die Versammlung stellen, in die Nähe der Tribüne des Landammanns, wo ich Alles hören und übersehen konnte.

Bezüglich der Abstimmung und deren Controlirung hätte auch eine Anwesenheit Mehrerer zwischen den Stimmenden keine Verwirrung hervorbringen können. Mitstimmen durfte nur, wer seinen Degen an der Seite trug. Hierin konnte Jeder seinen Nachbar controliren. Wehe dem, der ohne das Zeichen der Ehr- und Wehrhaftigkeit mitgestimmt hätte! Er wäre sofort jenen Lanzenwächtern überliefert worden. Nun wurde aber abgestimmt durch Aufhebung der Hand, und es wurde bei jeder einzelnen Frage Probe und Gegenprobe gemacht, so daß das Resultat immer mit Sicherheit übersehen werden konnte, gleichviel ob Fremde in der Versammlung waren oder nicht.

Hier muß ich noch eine Bemerkung einschalten. Das Appenzeller Recht bestraft jeden Exceß, jedes Vergehen, jedes Verbrechen, die am Tage der Landesgemeinde vorfallen, mit verhältnißmäßig weit härterer Strafe, wie sonst. Der Landesgemeinde ist ein ganz besonderer Friede geboten. –

Der regierende Landammann trat an die Schranke der Tribüne.

Es war ein schöner Mann, dem Anscheine nach einige vierzig Jahre alt. Das Gesicht war sehr ausdrucksvoll, etwas kränklich. Er ist Kaufmann in einem kleinen Dorfe vor der Sitter, Bühler. Sein Name ist Sutter. Wohin ich hörte und gehört hatte, sprach man mit der größten Hochachtung von ihm, von seinem Verstande, von seinem Charakter, von seiner ungeheuchelten Liebe für das Vaterland. Alle waren darin einig, mochten sie für oder gegen die Revision der Verfassung sein. Wie sehr der Mann diese allgemeine Achtung verdiente, sollte auch sein heutiges Auftreten und Verhalten zeigen.

Die Landesgemeinde begann mit der Eröffnungsrede des Landammanns.

Sie dauerte fast eine halbe Stunde. Er hatte darin die Veranlassung der außerordentlichen Landesgemeinde zu bezeichnen und die Vorlage für dieselbe, also den neuen Verfassungsentwurf im Ganzen und in seinen einzelnen Bestimmungen, namentlich den Hauptpunkten, der Versammlung näher zu erläutern, und dabei besonders hervorzuheben, von welchen Grundsätzen und Gesichtspunkten man bei den neuen Vorschlägen des Entwurfs ausgegangen sei.

Der einfache Kaufmann entwickelte in seiner Rede ein Talent, Kenntnisse, staatsmännische, wie selbst juristische; er sprach mit einer solchen Klarheit, ja mit einer solchen Eleganz des Ausdrucks, und dabei zugleich so allgemein verständlich und so volksthümlich; er zeigte überall eine solche ehrliche, treue, wahre Wärme für seinen Gegenstand, eine solche Liebe für sein Vaterland und dessen freie Institutionen; es drückte in jedem seiner Worte, in seinem ganzen Wesen eine solche edle Erhebung und Begeisterung neben voller Klarheit und Mäßigung sich aus, daß man unwillkürlich von Bewunderung für den Mann hingerissen und mit und von ihm für seinen Gegenstand mit fortgerissen wurde.

Ich habe in meinem Leben viele Reden angehört und anhören müssen, amtliche Reden früher als Beamter, parlamentarische Reden in Nationalversammlungen wie in Kammern, in demokratischen, wie in nicht demokratischen, von Demokraten und ihren Gegnern, von Abgeordneten und von Ministern. Glänzender mochte manche sein, mehr Kunst mochte sie entwickeln, – wie oft freilich die Kunst der Perfidie! – mehr Feuer der Begeisterung – wie oft auch wildes Feuer! – mochte in ihr brennen und flackern; aber wahrhaftig, mein lieber Freund, in Beziehung auf Klarheit, auf Eleganz und zugleich Popularität des Ausdrucks, auf besonnene Wärme, ehrliche Vaterlandsliebe, und vor Allem auf redliche Wahrheit, stelle ich die Rede des einfachen Kaufmannes auf der Appenzeller Landesgemeinde keiner Rede nach, die ich jemals gehört habe.

Er erhob seine Stimme unter der tiefsten, feierlichsten Stille. Nach seinen ersten Worten war auf dem weiten Platze unter all den elftausend Menschen keiner mehr, der nicht jede Sylbe hätte verstehen können. Er sprach frei. Er begann, nach altem Brauche, an seinen „stillstehenden“ Collegen, an die Landesbehörden, an das gesammte Volk sich wendend:

„Herr Landammann, meine Herren, liebe und getreue Mitlandleute und Bundesgenossen!“

Wie die Eidgenossenschaft durch Bündnisse der einzelnen Cantone („Stände“), so sind wieder die meisten einzelnen Cantone, namentlich Appenzell, ursprünglich durch die freie Verbindung einzelner Gemeinden entstanden, daher noch immer die alte Anrede: „Bundesgenossen.“

Er fuhr dann wörtlich fort: „An der letzten Frühlingsgemeinde habt Ihr eine Commission beauftragt, die nöthigen Verbesserungen unserer Cantonalverfassung vorzunehmen. Diese Commission ist dem ihr gegebenen Auftrage mit thunlicher Beförderung nachgekommen. Sie hatte zum voraus Euch eingeladen, ihr Eure Wünsche mitzutheilen. Sie hat diese Einladung wiederholt, nachdem sie den Entwurf unter möglichster Berücksichtigung der eingegangenen Wünsche vorberathen und Euch denselben zur Kenntniß gebracht hatte. Als sie dann endlich mit ihrer Arbeit zum Abschluß gelangte, übergab sie dieselbe dem ehrsamen großen Rathe, und damit auch Euch, getreue, liebe Mitlandleute und Bundesgenossen. Sowohl die Revisionscommission, als auch der große Rath haben Euch ihre Ansichten, Bemerkungen und Rathschläge darüber offen und freimüthig dargelegt, und diese beiden Körper, gebildet aus Männern des Volks, aus Männern Eures Vertrauens, empfehlen Euch alle die Vorschläge, welche nun heute an Eure Abstimmung gelangen, zur Annahme.

„Wenn solche Collegien, wie Eure Landesobrigkeit und Eure Revisionscommission, wenn solche erfahrene, biedere Männer des Volks gesprochen haben, könnte ich wohl schweigen und zur Abstimmung schreiten. Doch Euer Zutrauen hat mich an die Spitze dieser hohen Landesbehörde gestellt. Daher soll auch ich, und zwar von Angesicht zu Angesicht, treuherzig und offen zu Euch, getreue, liebe Mitlandleute und Bundesgenossen, sprechen. Ja, ich will zu Euch sprechen, einfach und schlicht, nach denjenigen Erfahrungen, die ich während meines Amtslebens, dem ich mit gewissenhafter Hingebung mich gewidmet habe, zu machen Gelegenheit hatte.“

Der Redner ging nun in den neuen Verfassungsentwurf ein.

„Vorab kann ich Euch mittheilen, daß die Revisionscommission von dem Grundsatze ausgegangen ist, das Gute und Brauchbare an der bisherigen Verfassung, als ehrwürdiges und schätzbares Erbgut unserer Väter, beizubehalten, und das Neue, das der fortschreitende Zeitgeist, das veränderte Verhältnisse, das eine gehörige Garantie für persönliche Freiheit und Rechtssicherheit fordern, unserer einfachen patriarchalischen Verfassung eben so einfach anzureihen.

„Immerhin wird die neue Verfassung wohl Manchem doch nicht gefallen. Dem Einem wird sie, trotzdem, daß die Abänderungen sich nur auf das Allernothwendigste beschränken, schon zu viel Neues enthalten; sie würden lieber gar nichts ändern, und das Alte, gerade so wie es ist, fortbehalten. Sie übersehen dabei, daß alles Menschliche in der Welt, was immer wir haben und sehen, von Zeit zu Zeit der Verbesserung, der Auffrischung bedarf, daß die Zeit nicht mit uns geht, sondern wir eben mit der Zeit gehen müssen. – Andern hingegen wird unsere Verfassung zu wenig Neues, und zu viel Altes enthalten. Möchten diese aber nicht übersehen, daß jede Verbesserung die Sanction des Volkes haben muß, und daß ein Volk auch unter einfachen patriarchalischen Verfassungsformen glücklich sein kann, vorausgesetzt, daß das Wesen in den Verfassungsbestimmungen, daß der Schutz der Rechte und Freiheiten des Einzelnen wie der Gesammtheit gesichert sind, wie dieses Alles in dem neuen Entwurfe nun ja der Fall ist. Noch Andere aber, und täusche ich mich nicht, so dürften diese wohl die große Mehrheit bilden, werden in dem Vorgeschlagenen der Hauptsache nach das erblicken, was Eure Landesobrigkeit wiederholt als dringendes Bedürfniß Euch empfohlen hat. Sie werden darin ersehen, daß nicht nur alle die Freiheiten, all das Schätzbare in der alten Verfassung auf das Gewissenhafteste wieder in die neue Verfassung übergetragen sind, sondern daß auch namentlich das köstliche Gut persönlicher Freiheit und Rechtssicherheit dadurch neue Stützen, eine weit sicherere Grundfeste erhalten haben; und wenn allfällig einzelne Formen, wenn Nebensachen nicht gerade in aller Beziehung so wären, wie jeder Einzelne für sich es vorziehen würde, so werden sie gleichwohl nicht das Wesen selbst, die Perlen, die darin liegen, beseitigen, wohl wissend, daß doch nicht allen Wünschen entsprochen werden kann.“

Der Redner wandte sich dann zu den hauptsächlichsten Einzelnheiten des Entwurfs. Es waren die nämlichen, die ich oben hervorgehoben habe.

Was er darüber sagte, werde ich hier nicht mittheilen. Es war – der Natur der Sache nach – von der einen Seite zu rein technisch, von der anderen zu speciell örtlich.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 679. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_679.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)