Seite:Die Gartenlaube (1858) 691.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Euren Sinn für Freiheit befestigen, bis einst ein glückliches Fortschreiten Eurer Zustände und Verhältnisse und der mit ihnen stets fortschreitende und sich entwickelnde Geist des Guten wieder neue, bessere Institutionen für das Land fordert. Das walte Gott!

„Und hiermit erkläre ich diese außerordentliche Landesgemeinde für geschlossen!“

Er bedeckte sich. Mit ihm alle Andern.

Die Landesbeamten zogen in dem frühern Zuge zum Pfarrhause zurück.

Die Landesgemeinde löste sich auf.

Es war auf der Kirchuhr noch nicht zwölf Uhr, und das Ganze hatte mithin keine Stunde gedauert.

Ein wichtiges Gesetz war in der Stunde beschlossen, ein großes Werk war gethan.

„Die Augen von Europa sind auf uns gerichtet!“ Wie oft hörte man und hört man noch die Phrase in deutschen und anderen Kammern und Kämmerchen!

Kein Mensch in Appenzell dachte daran, daß Europa auf die Landesgemeinde in Hundwyl vom 3. October sehen werde. Noch weniger wurde ein Wort darüber laut. Europa sah auch nicht dahin; außerhalb der nächsten Cantone der Schweiz kein Mensch in der Welt. Europa wird auch ferner nicht daran denken, dem kleinen Cantone zu seiner „Errungenschaft“ Glück zu wünschen.

Aber Europa hätte wohl auf den grünen Rasenplatz in dem Alpendorfe Hundwyl, auf den klaren Sonntagmorgen, auf die hohen Berge und Alpen ringsum, und auf die zwischen diesen Bergen auf der grünen Matte versammelten „ehr- und wehrhaften“ und freien elf- bis zwölftausend Appenzeller Männer die Augen richten mögen, wie sie so klar, so ruhig, so besonnen, so frei, ihr großes Werk der Freiheit begannen, durchführten und beschlossen.

Auch ein Volk klein an Zahl kann groß sein!

Die Landesgemeinde war beendigt. Aber ich muß Ihnen doch noch Einiges von ihr erzählen.

Die bei weitem größte Mehrzahl der Anwesenden begab sich unmittelbar nach der Auflösung auf den Rückweg nach Hause. Nur verhältnißmäßig sehr Wenige bliebe noch im Dorfe zurück.

Ich wollte den Tag noch bis zu dem hübschen St. Gallen, das ich seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, und ich nahm deshalb Abschied von meinem freundlichen Begleiter Grunholzer, um, gleichfalls ohne weiteren Aufenthalt, meine Wanderung durch das Gebirge anzutreten.

Mein Weg führte mich in den größten Zug der Zurückkehrenden, durch und vorbei an den belebten Dörfern Stein, Teufen und so weiter. Ich hatte noch einzelne Begleiter bis in St. Gallen hinein; sie waren aus dem Badeorte Heiden jenseits St. Gallen.

Von den wunderbar schönen, fruchtbaren, reichen Gegenden, von den wilden Schluchten, durch welche Bäche und kleine Flüsse tief unten im Grunde rauschten, von den grünen Wiesen, Weiden und Alpen, von den hohen Bergen, malerischen Dörfern, Sennhütten und so weiter, von dem Allen, was ich auch auf diesem Wege so herrlich sah, will ich Ihnen nichts erzählen; ich könnte fast nur wiederholen, was ich Ihnen von dem Wege nach Hundwyl gesagt habe.

Aber von den Menschen, die von der Landesgemeinde zurückkehrten, habe ich Ihnen noch Einiges zu berichten.

Als wir die Höhe zwischen Hundwyl und Stein erreicht hatten, sah man sie rund umher auf allen Anhöhen, in allen Thälern in unübersehbaren Zügen auf den schmalen Bergpfaden dahingehen. Wie am Morgen alle die Menschenströme nach dem Einen Punkte von den hohen Bergen sich ergossen hatten, so stiegen sie jetzt von dem Einen Punkte aus nach allen Seiten und Richtungen die hohen Berge wieder hinan. Noch stundenlang konnte man durch neue Thäler, auf neuen Anhöhen diese Ströme verfolgen.

Und Alle waren sie eben so ordentlich und ruhig, wie auf dem Hinwege und auf der Versammlung selbst. Fast Jeder trug seinen Degen, um leichter in den Bergen marschiren zu können, in der Hand. Es waren in den Zügen der Heimkehrenden viele junge Leute. Aber nirgends sah man auch nur ein Fechten oder Handthieren mit dem Gewehre, nirgends ein Rennen, Ringen, Necken oder dergleichen, nirgends hörte man ein wüstes Schreien, nur ein überlautes Wort.

Und man sah es den Leuten an, nicht etwa die Furcht vor dem Gesetze, das Excesse und Verbrechen am Tage der Landesgemeinde mit doppelt schweren Strafen bedroht, wirkte auf sie ein, die feierliche Stimmung des Tages war es vielmehr, das bewußte oder unbewußte Gefühl des schönen Tages, des großen Werkes, das sie als freie Männer ausgeführt hatten.

Dabei war die Achtung auffallend, die die jüngeren Männer vor den älteren hatten. Ein ganz alter Greis ging mit in dem Zuge. Er war noch körperlich rüstig, aber den Geist hatte das Alter wohl etwas angegriffen. Er mußte die Andern von mir haben sprechen hören, und so machte er sich an mich heran.

„Der Herr ist aus Elbling?“ fragte er mich.

Er meinte die Stadt Elbing.

Ich antwortete ihm „Nein.“

Ein paar junge Männer waren dicht bei uns. Sie lächelten, so wie er die Frage an mich richtete. Aber gutmüthig, leise, daß er es ja nicht merken sollte. Einer von ihnen zog mich auch so auf die Seite:

„Er ist ein alter Soldat, der mit den Franzosen in Rußland war. Sein drittes Wort ist Elbling.“

Der alte Soldat erzählte mir nun selbst, wie er im Jahre 1812, aus der Russischen Campagne zurückgekehrt, in Elbing krank geworden und längere Zeit im Quartiere gelegen habe. Und trotz meines Verneinens blieb er dabei, ich müsse aus Elbling und gar ein Sohn aus dem Hause sein, in dem er im Quartiere gelegen habe.

„Das sagt er zu jedem Fremden,“ flüsterte der junge Mann mir wieder zu. „Sonst ist er ein braver Mann.“

Das war Alles, was über den Mann bemerkt wurde. Wo anders in der Welt hätten mitten in einem Volkshaufen die kindischen Worte des Greises nicht Spott und lautes Gelächter hervorgerufen? –

Eins war auf dem Rückwege anders, als auf dem Hinwege. Es wurde jetzt überall von der Landesgemeinde gesprochen, von ihrem Resultate, von den einzelnen Artikeln. Mit der Annahme der Verfassung waren Alle einverstanden, die ich hörte. Mit einzelnen Artikeln nicht, und sehr Viele hätten deshalb eine artikelweise Abstimmung lieber gesehen. Aber ein Streiten hörte man auch jetzt nicht. Nirgends traten die Leute aus ihrer Ruhe heraus.

Sie wandten in ihren Gesprächen sich auch an mich.

„Der Herr war mit dem Herrn Grunholzer gekommen? Der Herr hatte noch keine Landesgemeinde gesehen?“

„Nein, noch niemals.“

„Nun, wie hat es dem Herrn denn bei uns gefallen?“

So konnte ich Theil nehmen, und ich hörte manches Interessante. Gegen die Schaffung des Obergerichtes hatten sie vorzüglich einzuwenden, daß wieder mehr Beamte gewählt werden müßten.

„Zu viele Beamte taugen nicht,“ bemerkten s«. „Sie meinen sonst zuletzt, sie seien die Herren im Lande.“

Bei dem Criminal- und Polizeigericht hatte das Wort Polizei sie gestoßen. Sie kannten das Wort bisher nur in Beziehung auf Bettler und Vagabunden und auf den Wirthshausbesuch nach der nächtlichen Polizeistunde.

„Zu viele Polizei im Lande taugt nicht,“ hieß es auch hier, „und der Richter soll gar nichts mit der Polizei zu thun haben; er soll nach den Rechten über die Landleute zu Gericht sitzen. Wir sind aber keine Vagabunden, die man aus dem Lande transportiren kann.“

Welch ein richtiges, bewußtes Gefühl lag überall den Urtheilen zu Grunde!

Am interessantesten waren mir folgende Bemerkungen. Sie fanden bei Gelegenheit des Gesprächs über die Criminal- und Polzeigerichte statt.

Ich habe schon oben gesagt, wie der Landammann über und für sie in seiner Rede mit besonderer Wärme gesprochen hatte. Das hatte nicht ich allein, das hatten alle Anwesenden bemerkt. Aber auf die Andern hatte es einen Eindruck gemacht, von dem ich keine Ahnung gehabt hatte.

Ein alter schlichter Landmann sprach sich auf dem Rückwege zuerst darüber aus und Alle ohne Ausnahme stimmten ihm bei.

„Ja,“ sagte der alte Mann kopfschüttelnd, „was der Herr Landammann über die Criminal- und Polizeigerichte sagte, das war nicht so ganz recht.“

Ich bemerkte ihm, daß mir gerade das besonders gefallen habe. Der Landammann habe mit den einleuchtendsten Gründen und auf durchaus klare Weise die Nothwendigkeit einer zweiten Instanz in Strafsachen hervorgehoben.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_691.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)