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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)


Der Tag ist unter resultatlosen Versuchen verstrichen, die Sonne neigt sich zum Untergange, es ist 6 Uhr, und seit 32 Stunden ringt Avery um Leben und Tod.

Das Fahrzeug, von Tauen gehalten, beginnt seinen Lauf mit langsamer Sicherheit, die Richtung nach dem Flosse verfolgend, es nähert sich, Avery löst die Bande, die ihn auf dem Flosse festgehalten – noch einen Augenblick, und das Boot ist an seiner Seite.

Bewegungslos, wie vorhin, starrt das Volk auf den Jüngling, der zitternd vor Schwäche und Hast die Arme nach den rettenden Borden ausstreckt – da hebt sich das Vordertheil des Flosses, wie von einer unterirdischen Gewalt getroffen, Avery verliert das Gleichgewicht, er taumelt, er stürzt in die Wirbel. Entsetzen hat die vorhin noch so hoffnungsfreudigen Herzen der Zuschauer erstarrt.

Mit dem Reste jenes Muthes, welcher die Menschen im Angesichte und in der Umarmung des Todes zu ohnmächtiger letzter Anstrengung aller Kräfte antreibt, versucht Avery gegen den Strom zu schwimmen.

Nachdem er sich aber kaum einige Augenblicke auf einem Punkte erhalten, verlassen ihn die Kräfte, der Strudel erfaßt ihn, er überstürzt ihn und wirbelt ihn nach dem Abgrund. Noch hat er ihn nicht erreicht, da erhebt er sich mit letzter Anstrengung über das Wasser, ein einziger Blick nach dem linken Ufer, eine verzweiflungsvolle Gebehrde des Abschiedes – er ist verschwunden.

Da wenden sich alle Blicke nach jener Seite, die bisher Niemand beachtet hatte. Dort liegt eine Frau auf den Knieen und stürzt im Augenblicke, als der Unglückliche über dem Abgrunde verschwindet, wie vom Blitze getroffen, todt nieder. Die Frau, welche vom Morgen bis zu diesem entsetzlichen Momente mit starren, thränenlosen Blicken den Himmel um Hülfe angefleht hatte, war seine Mutter.




Ein aufgelöstes Räthsel.
Von E. Pirazzi in Offenbach.
Die Auflösung des Räthsels. – Carolinens Flucht. – Große Theilnahme für das angebliche Opfer eines Verbrechens. – Beobachtungen beim ersten Auftreten. – Erste Erziehung. – Unterricht im Deutschen. – Bewunderungswerthe Schlauheit des Mädchens.


I.

In Nr. 2–4 des laufenden Jahrgangs dieser Blätter[1] ist unter der Ueberschrift „Ein unaufgelöstes Räthsel“ die wunderbare Pseudogeschichte eines weiblichen Caspar Hauser mitgetheilt, der, oder vielmehr die seit Mitte November 1853 in unsrer guten Stadt Offenbach Gastrecht, Pflege und Erziehung genoß, und deren angebliche seltsame Schicksale weit und breit das größte, das ungetheilteste Interesse erregten. Jene Mittheilung folgt, erst objectiv, dann kritisch, genau und eingehend einer im December 1855 von dem seitherigen Lehrer dieses Mädchens, Herrn Friedr. Eck, darüber veröffentlichten ausführlichen Darstellung („die langjährige unterirdische Haft zweier Kinder“ etc. Frankfurt a. M., Verlag von F. B. Auffarth) und schließt mit der Bemerkung, daß, nachdem inzwischen schon Jahre in unfruchtbaren Nachforschungen hingegangen, die Hoffnung, daß dies dunkle Räthsel noch eine Lösung finde, schwach zu werden beginne.

Dies Räthsel hat aber seine Lösung, wenn schon in gänzlich unvorhergesehener Weise, kürzlich dennoch gefunden. Die nachfolgende Darstellung dieses psychologisch höchst merkwürdigen Falles knüpft in ihrem Verlaufe durchaus an den obenerwähnten Aufsatz Ihres früheren Berichterstatters an, muß den Inhalt desselben allerdings aber auch bei Ihren Lesern als bekannt voraussetzen und sehr Vieles ungesagt lassen, was dort bereits von Carolinen berichtet wurde.

Wir beginnen beim Ende. Nachdem „Caroline“ (wie wir sie hier vorerst noch immer nennen werden) außer in den Elementarfächern durch Herrn Eck auch von einem hiesigen evangelischen Geistlichen seit Mitte August v. J. Unterricht in der Religion empfangen hatte, sollte sie binnen Kurzem durch die Taufe in die Christenheit, und gleichzeitig durch die Confirmation in die protestantische Kirche aufgenommen werden, als sie plötzlich am Vormittag des 26. Juli ebenso räthselhaft wieder aus dem Hause ihres Lehrers und aus unsrer Stadt verschwand, als sie seiner Zeit in hiesiger Gegend aufgetaucht war.

Dieses Verschwinden verfehlte nicht, die ungetheilteste Aufmerksamkeit der Oeffentlichkeit neuerdings auf das Mädchen hinzulenken, denn man fühlte wohl, daß damit die ganze räthselhafte und unerhörte Geschichte leicht an den Vorabend ihrer endlichen Lösung getreten sein könnte. Und so erweckte denn ihr Verschwinden vielfach neue Sympathien für sie selbst, neue Erbitterung gegen ihre Feinde und Verfolger, neue Vergleiche mit dem kläglichen Ende Kaspar Hausers.

So blieb es 14 Tage lang, wo sich endlich am Morgen des 9. August für uns dies neue, spannende Räthsel zusammt dem alten in ebenso unerwarteter als verstimmender Weise lösen sollte.

Um diese Zeit traf nämlich bei hiesiger Polizei ein Bericht des königl. bair. Landgerichts Neustadt an der Aisch ein, worin gesagt war: daß „die berüchtigte Vagantin Kunigunde Lechner aus Linden“ neuerdings vagabundirend im Bairischen aufgegriffen worden, nachdem sie bald nach ihrer Entlassung aus einer jenseitigen Strafanstalt im October 1853 spurlos aus ihrer Heimath verschwunden gewesen. Sie gebe an, in der Zwischenzeit sich in Offenbach aufgehalten und sich dort der ungarischen Sprache bedient zu haben, deren sie allerdings „mächtig sei.“ Man bitte um nähere Auskunft u. s. w. – Verschiedene weitere Angaben des Berichts ließen keinen Zweifel an der Identität der „Caroline B.“ mit der „Kunigunde Lechner“ zu. Wie ein Blitz durchflog die Nachricht von dem schalen Ausgang, den die hochromantische Geschichte unsrer „großen Unbekannten“ (wie sie hier scherzweise meist genannt wurde) genommen hatte, die ganze Stadt, welche fast fünf Jahre hindurch der Schauplatz ihres unglaublichen, beispiellosen Betruges gewesen war; es bildeten sich Gruppen auf den Straßen, Begegnende riefen sich von Weitem zu: „Nun, weißt du schon –?“ … und abermals war Caroline-Kunigunde die Heldin des Tages, der ausschließliche Mittelpunkt aller Gespräche im Hause, auf der Gasse und in der Kneipe geworden. Die allgemeine Aufregung war einerseits gemischt mit wohlfeiler Schadenfreude, andrerseits mit gerechter Entrüstung, hie und da vielleicht auch mit einer kleinen Dosis Beschämung, daß uns nun jede „Spottgeburt aus Dreck und Feuer“ mit Mephisto höhnisch sollte zurufen dürfen: „Ein Mägdelein nasführte dich!“

Die Angelegenheit dieses Individuums, das sich eben aus einer ungarischen Magnatentochter zur simplen Kunigunde Lechner demaskirt, hatte einst die gesammte öffentliche Meinung und die ganze deutsche, ja sogar einen Theil der außerdeutschen Presse alarmirt, alle Gerichte in Athem und Bewegung gesetzt, und die Leipziger Illustrirte Zeitung hatte das Bild eines Mädchens gebracht, dessen wunderbare Schicksale in den entferntesten Winkeln Deutschlands bis tief nach Oesterreich hinein (wohin die Spur der an ihr begangenen dunklen That zu weisen schien) das ungetheilteste Interesse erregten. Diese Theilnahme, welche man außerhalb fast noch mehr als bei uns an diesem angeblichen Opfer eines unnatürlichen Verbrechens aus den höheren Kreisen der Gesellschaft nahm, gab sich in den mannichfachsten Zeichen und oft auf das Rührendste kund. Personen aller Stände, Adelige der Geburt und Adelige der Gesinnung nach, Gelehrte, Menschenfreunde, sowohl Männer als Frauen, kamen selbst nach Offenbach, das Mädchen aus dem Fabelreich zu sehen, zu sprechen und mit Geld, Kleidungsstücken und sonstigen Andenken zu beschenken, oder setzten sich schriftlich mit ihrem Lehrer Eck in Verbindung. Von Frankfurt waren einmal anonym 200 fl. hiesiger Bürgermeisterei mit der Bitte übersandt worden, selbe für Carolinens weitere Ausbildung und Erziehung zu verwenden. An einigen deutschen Höfen interessirte man sich lebhaft für die seltsame Erscheinung Carolinens, und ließ es an gelegentlichen Erkundigungen nach ihr nicht fehlen. Ebenso verdient die Theilnahme deutscher Gerichte, vor Allem aber die Thätigkeit der österreichischen Behörden, den Urhebern des angeblichen Verbrechens auf die Fersen zu kommen und den verworrenen

  1. Exemplare des ersten Quartals, so wie des ganzen Jahrgangs können noch durch jede Buchhandlung und alle Postämter nachbezogen werden.
    Die Verlagshandlung.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_710.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)