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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Wellen wieder an den Mauertrümmern und oft spülte eine höher schwellende Woge darüber hin und verrann zischend in die Gruben oder plätscherte um die wenigen noch vorhandenen Grabhügel. Einige derselben konnten noch nicht sehr alt sein, obwohl es uns nicht recht einleuchten wollte, wie auf dieser so schauerlich öden Landspitze Jemand begraben sein mochte.

Mit einigem Erstaunen entdeckten wir, weiter schreitend, hinter der verfallenen Kirche ein einstöckiges, aus gelblichen Backsteinen aufgeführtes Haus, das, nach seinem Aeußeren zu schließen, bewohnt sein mußte. Es lag ziemlich geschützt gegen Nord- und Nordweststürme und fast in gleicher Höhe mit dem Kirchlein, das Meer dagegen mußte bei Hochfluthen allem Anscheine nach seine gefräßigen Wogen auch an den Wänden dieses einsiedlerischen Hauses zerschlagen.

Der Capitain klopfte stark an die fest verschlossene Thür. Im Innern des Hauses blieb es todtenstill. Das Klopfen ward stärker wiederholt. Nun zeigte sich ein Licht hinter dem verschlossenen Fensterladen und eine tiefe Baßstimme fragte, wer so spät in der Nacht Einlaß begehre.

„Arme Schiffbrüchige,“ lautete die Antwort des Capitains der „Olga“, worauf behutsam zwei Riegel zurückgeschoben, die Thür aufgeschlossen und nach innen geöffnet ward.

Vor uns auf schmaler Diele stand ein hagerer Mann mit schneeweißem langen Haar. Seine Tracht war mehr die eines Eremiten als eines Mannes aus dem Volke. Sie bestand aus einem grobtuchenen bräunlichen Talar und war in der Hüftengegend mittelst eines breiten Lederriemens gegürtet. Hals und Brust trug der Alte unbedeckt und nur sein langer, ebenfalls ganz weißer Bart gewährte der stark behaarten Brust einigen Schutz gegen Wind und Wetter.

„Könnt Ihr uns ein Obdach gewähren bis zum nächsten Morgen?“ fragte der Capitain, dem ehrwürdigen Alten, dessen Züge Menschenfreundlichkeit ausdrückten, die Hand zum Gruße reichend.

Der Bewohner des einsamen Hauses nahm sie, indem er das Windlicht höher hob, um die Schaar seiner unerwarteten Gäste besser überblicken zu können. Unsere Gesellschaft bestand im Ganzen aus zwölf Personen.

„Tretet ein in Frieden!“ gab er zur Antwort. „Was Niels Sturleson besitzt, steht Euch zu Diensten. Gott der Allmächtige segne und beschütze Euch!“

Er machte über uns Alle das Zeichen des Kreuzes und bald standen, saßen und lehnten wir in dem schmucklosen Raume, der zugleich Wohn- und Schlafzimmer des würdigen Einsiedlers war.

Auf dem Heerde glimmten noch einige Torfkohlen, das Feuer schien aber schon geraume Zeit ausgebrannt zu sein. Niels Sturleson, dessen eigenthümlicher Dialekt uns schon seine isländische Abstammung verrieth, hatte sich trotz des fürchterlichen Sturmwetters doch vertrauensvoll der Ruhe überlassen. Sein bescheidenes Lager war eingedrückt. Er bot es freundlich Henricksen, der stark angegriffen war, zur Benutzung an, was indessen mein Freund ablehnte.

Auf die Frage des Capitains, ob ihn denn dies Rasen der Elemente in seiner traurigen Einsamkeit nicht beunruhige, versetzte er lächelnd:

„Weshalb sollte ich mich beunruhigen? Wir stehen überall in der Hand des Allmächtigen, und wer, wie ich, von Jugend auf an furchtbare Naturerscheinungen gewöhnt ward, der ist, was sich immer ereignen möge, frei von jeglicher Furcht.“

Aus seinen weiteren Antworten auf an ihn gerichtete Fragen erfuhren wir, daß er keine Ahnung von den schrecklichen Scenen hatte, die wir so eben erst als Mitleidende und Zuschauer erleben mußten. Strandungen waren ihm nichts Neues, der Brand des Dreimasters aber mußte ihm unbekannt bleiben, da er bei fest geschlossenen Fenstern still in seinem Hause saß.

„Ich würde morgen früh die Verwüstungen der Elemente mit bebendem Herzen betrachtet haben,“ sprach der Greis, als er unsere Schilderung der erlebten Schrecknisse schweigend vernommen hatte. „Nach jedem nächtlichen Sturme durchwandere ich das Skagener Horn, um zwischen den verwitternden Leibern halb versunkener Schiffe nach menschlichen Leichnamen umherzuspähen, etwa noch Lebende, der Hülfe Bedürftige zu retten und die Todten christlichem Gebrauche nach nebenan auf dem Kirchhofe zu beerdigen. Diese Pflicht übe ich hier schon über zwanzig Jahre aus. Es gehört Entsagung dazu und ein unerschöpflicher Quell wahrer Menschenliebe, um das Amt eines Todtenbestatters – denn etwas Anderes liegt mir nicht ob – auf dieser von Menschen und Thieren geflohenen Sandzunge mit Liebe und ohne Murren zu verwalten. Als mein Vorgänger starb, wollte sich kein Geistlicher mehr finden, der die Stelle übernehmen mochte. Da entschloß ich mich dazu. Hatte ich doch immer einsam und zurückgezogen gelebt. Bedürfnisse feineren Lebens kannte ich nie, denn meine Eltern waren blutarme isländische Fischer. Im Darben bin ich erwachsen. Warum sollte ich nicht thun, was Andere mit Entsetzen erfüllte? Was ich zum Leben brauche, wird mir gebracht. Die wilde Natur, die Schrecken der Stürme und des langen Winters nöthigen mich stets zur Einkehr in mein Inneres, und so kann ich nicht sagen, daß ich anderswo als hier zu leben wünsche. Wer seinen Tod in der See findet und dann hier als Leichnam antreibt, den segne ich ein und bestatte ihn zu den Andern. Es finden sich da Menschen zusammen aus allen Nationen. Selbst ein Negerpaar habe ich einmal da drüben begraben.“

Der Mann ward beredt und wir hörten ihm Alle gern zu. Er trug auf, was sich in seiner Vorrathskammer fand: schwarzes Brod, Käse und eine Karaffe echten Schiedamer. Auch Feuer versuchte er anzuzünden, um ein heißes Getränk bereiten zu können, der mit gleicher Heftigkeit forttobende Sturm aber blies die Flammen immer wieder aus und erfüllte das ganze Haus mit so erstickendem Torfrauche, daß der gute Alte von seinem Vorhaben abstehen mußte.

Niels Sturleson war sonach Todtengräber und Geistlicher zu gleicher Zeit. Nur ein so einfacher, bedürfnißloser Mann, wie dieser ehrwürdige Isländer, konnte einem so schwierigen, ja abschreckenden Amte vorstehen. Selten nur sprach er Menschen, noch seltener glückliche Menschen. Wer an seine Thür klopfte, den verfolgte das Unglück. Und zitterte eine Thräne des Dankes an der Wimper solch’ eines Fremdlings, so trübte dies Dankgefühl doch gewiß ein Tropfen Wermuth. Er hatte entweder Verwandte oder Freunde verloren oder betrat doch, wenn allein, völlig mittellos die Wohnung des gottesfürchtigen Todtenbestatters.

Mehrere von der Mannschaft der „Olga“ äußerten ihre Verwunderung über Sturleson’s milde Freundlichkeit.

„Ich möchte hier nicht einmal todt sein, wie man wohl zu sagen pflegt,“ rief Henricksen aus.

„Es muß sich bei alledem hier doch ganz gut leben lassen,“ versetzte darauf mit seiner milden Ruhe der alte Isländer. „Mein Vorgänger war über neunzig Jahre alt, als Gott ihn abrief, und ich gehe auch schon in das neunundsiebzigste. Trotzdem fühle ich mich stets wohl und kräftig, und all’ die vielen Leiden glücklicher Städter, denen die Freuden und Genüsse der ganzen Welt zu Gebote stehen, fechten mich nicht an. Manchmal gibt es auch gar interessanten Besuch.“

„Von Schiffbrüchigen, die so glücklich waren, wie wir?“ warf ich ein. „Kann man das Glück nennen?“

Niels Sturleson schüttelte sein Silberhaar.

„Nicht von den Lebenden, nur von den Todten spreche ich,“ gab er zur Antwort.

„Von den Todten?“ rief Henricksen.

Der Alte sah ihn mißbilligend an.

„Von ihnen können wir oft mehr lernen, als von den Lebendigen,“ fuhr er fort. „Was steht nicht Alles geschrieben in dem Antlitze eines Verstorbenen, den der Tod unerwartet überrascht, der aber, bevor er dessen Beute wird, diesem Stunden lang in das unerbittlich kalte, hohle Auge schauen muß? O, wie klein, wie hinfällig, wie ganz machtlos erscheint der Mensch in solch’ entscheidenden Augenblicken! Da bricht der Stolzeste in sich zusammen und schreit, oft nur aus Verzweiflung, um Erbarmen, während der Demüthige nur sanft die Lippe bewegt und zum letzten Dank- und Bittgebet die Hände faltet. Die vielen Jahre her, die ich nun auf diesem wüsten Erdflecke Todtenbestatter bin, habe ich die Gesichtszüge so vieler Todten studirt, daß ich mir getraue, jedes so rasch Verstorbenen Lebenslauf daraus zu entziffern. Nur weil sie todt sind, unterlasse ich es, denn wem möchte es nützen, wenn ich auftreten und sagen wollte: der da mit der schlaff herabhängenden Lippe, mit den offenen stieren Augen, mit den krampfhaft ineinander geflochtenen Händen war ein Mann mit bösem Gewissen? Er hatte betrogen, verleumdet, heimliche Sünden getrieben oder Mord lastete auf seiner Seele? Nein, ich schweige, schweige immer und

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