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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Er saß so unheimlich, so grauenvoll da. Konnte wirklich ein anderer, als ein unheimlicher, grauenvoller Urteilsspruch von dem Manne kommen? Er öffnete den Mund. Er sprach nur wenige Worte.

„Ich stimme für den Tod.“

Er sprach die Worte kalt. Dann sah er sich im Saale um. Er sah alle seine Collegen an. Man sah seine Augen, sie blickten Einen der Anwesenden nach dem Andern herausfordernd an.

Es mochte Manchen wohl kalt überlaufen bei dem kalten, herausfordernden, höhnisch herausfordernden Blick.

„Ihre Gründe?“ fragte ihn der Präsident.

Nach dem Gesetze muß jeder Richter sein Votum mit Gründen abgeben.

Er brachte seine Gründe vor, eben so kalt und herausfordernd.

„Ich gebe nichts auf alle jene abstracten Theorien. Sie sind entweder für das Recht verderblich, wie die vom Complott, oder sie sind geradezu lächerlich, wie die von dem eventuellen Dolus. Ich halte mich an das Recht, das aus jedem einzelnen Falle mir hervortritt, und prüfe, ob und welche Strafe danach ein Jeder verdient hat. Nur so allein ist das Recht und das Rechte zu treffen. Auch in diesem Falle. Es liegt ein Mord vor. Er ist von Mehreren verübt. Die eigene Tochter hat mitgewirkt. Für sie liegt ein Vatermord vor. Mitgewirkt hat die Inquisitin: gerade ohne sie wäre der Ermordete seinen Henkern nicht überliefert worden. Sie hat wissentlich mitgewirkt. Oder meinen Sie, ein Mädchen von neunzehn Jahren, dem man ein ganzes Jahr lang unablässig vorgesagt hat: nur dein Vater, der rohe, gemeine, ewige Trunkenbold steht deiner Verbindung, deinem Glücke entgegen, sein Tod macht dich frei, glücklich; das man dann auffordert, diesen Vater nächtlicher Weile in einen einsamen, gefährlichen Hinterhalt zu locken; das zuerst angelegentlich mehrere Male fragt, warum sie ihn dahin locken solle; dem man dann geradehin sagt: er muß weg, wenn er weg ist, kannst du heirathen; das nun nicht mehr fragt, sondern thut, was man von ihr verlangt hat, das dann noch, als sie den Vater mit dem Tode kämpfen sieht, ihre Mutter unterstützt, damit diese ihm den letzten Todesstoß geben kann – meinen Sie, meine Herren, daß eine solche Person nicht gewußt habe, um was es sich handelt, daß ihr Vater weggeschafft, gemordet werden solle? Sie selbst, meine Herren, die Sie zu Gunsten der Verbrecherin sprechen, nennen sie eine Verführte; wozu wäre sie denn nach Ihrer Meinung verführt, wenn nicht zu einer wissentlichen Theilnahme an dem Morde? Die Vatermörderin ist für mich da. Sie hat den Tod verdient. Nichts in der Welt kann meine Ueberzeugung hierüber erschüttern. Man will noch Milderungsgründe für sie auffinden. Ihre Jugend, ihre Gefühllosigkeit, jene Verführung sollen ihr Verbrechen mildern. Ihre Jugend, ihre Gefühllosigkeit? Es ist für mich jedesmal beschämend, solche Gründe in einem Gerichtssaale hören zu müssen. Gerade das jugendliche Gemüth soll für Tugend, Sitte und Recht am empfänglichsten sein, und wenn Sie, meine Herren, das nicht anerkennen, wenn Sie hier durch Milde die Untugend, das Laster, das Verbrechen privilegiren, prämiiren, erziehen Sie dann nicht die Jugend zu Lastern und Verbrechen? Und gar die Gefühllosigkeit, die Rohheit wollen Sie privilegiren und Prämiiren? Bedenken Sie dann nicht, daß Sie den Mörder, der vorher kalt und gefühllos sein Opfer mißhandelt, deshalb, gerade deshalb gelinder bestrafen müßten, als wenn er sich keine Mißhandlungen hätte zu Schulden kommen lassen? Ei, meine Herren, die Sie hier die Todesstrafe ausschließen wollen, künftig braucht ein Mörder nur recht roh, grausam und unmenschlich zu handeln, um vor Ihrem Richterstuhle sein Leben zu retten. Sie haben auch von Verführung gesprochen. Die Liebe zu dem jungen Menschen, der ihr Mitverbrecher wurde, diese durch die eigene Mutter absichtlich in ihr erregte und zu jener treibenden Gewalt gesteigerte Leidenschaft soll mildernd für die Inquisitin sprechen! Meine Herren, mit solchen Argumenten will man jetzt das Recht üben? Wenn die gemeine sinnliche Liebe in einem Kindesherzen die heilige Kindesliebe unterdrückt, verleugnet, vernichtet, daß das Kind den Vater mordet, dann wollen Sie darin Entschuldigung finden, und recht milde, gnädige Richter sein, den Mord nicht mehr als Mord gelten lassen? Den Vatermord? Wohlan, meine Herren, sprechen Sie das aus, wagen Sie, das auszusprechen, und Sie haben mit Einem Male alle Bande der Familie, der Eltern-, der Kindes-, der Gattenliebe zerrissen, und die gemeine sinnliche Liebe auf den Thron gestellt. – Sie haben meine Gründe.“

Er schwieg. Er hatte zuletzt mit erhöhter Stimme, mit unwillkürlicher, lebhafter Bewegung gesprochen. Er saß wieder unbeweglich da, mit fest zusammengepreßten Lippen. Ueber seine Augen zogen die Brauen sich wieder tief hinunter.

Seine Logik war eine eigenthümliche. Er berief sich auf seine Ueberzeugung, also auf etwas rein Innerliches. Er ließ Thatsachen sprechen, und zwar so, wie er sie combinirte. Er stellte Parallelen auf, in denen das Aehnliche unwiderleglich erschien, die lähmende, abweichende Sehne aber tief verborgen lag. Dazu die Dialektik des Hohnes. Man konnte ihm nicht auf der Stelle opponiren.

Der Präsident hatte das Recht, noch eine Debatte zu eröffnen. Jeder konnte darin noch seine Meinung ändern. Er eröffnete sie. Aber er mußte im ersten Augenblicke selber das Wort ergreifen, und er konnte nur mit Argumenten des Gefühls kämpfen.

„Meine Herren,“ sagte er, „ich habe es für meine Pflicht gehalten, die Inquisitin vor unserer heutigen Sitzung im Gefängnisse zu besuchen. Ich glaubte, dadurch, daß ich sie persönlich sähe und hörte, am sichersten mein Urtheil über ihre Strafwürdigkeit befestigen zu können. Ich wünschte, auch Sie hätten die Unglückliche kennen gelernt.“

„Den Grundsätzen des Inquisitionsprocesses wäre das entgegen gewesen,“ bemerkte der Rath, der mit der neueren Wissenschaft vertraut war und Präsident werden wollte.

„Aber unser Gesetz verbietet es nicht,“ versetzte der Präsident. „Ich habe in der That eine Unglückliche,“ fuhr er fort, „eine bedauernswerthe Unglückliche kennen gelernt. Ein würdiger Prediger hat während der Haft die schlummernden Vorstellungen der Verwahrlosten über Gott, Religion, Recht und Sittlichkeit geweckt und lebendig gemacht. Erst jetzt erkennt sie, was sie gethan hat; erst jetzt hat sie es erkennen können. Sie verabscheut ihre That; sie würde von nun ab nie ihrer fähig sein. Die Grundsätze der Religion, der Tugend sind in ihr erwacht und befestigt mit einer Kraft, daß nur sie fortan die Richtschnur für ihr Leben bilden können. Und wir sollten es nun für unsere Pflicht, für Recht halten müssen, der Armen das Leben abzusprechen? Ich bitte Sie noch einmal, meine Herren, prüfen Sie wohl Ihr Gewissen!“

Der Rath Rohner erwiderte dem Präsidenten nichts. Seine Lippen zuckten mir höhnisch, als er die Worte Gott und Religion vernahm. Der fromme Rath nahm das Wort.

„Die Gründe des Herrn Präsidenten sind gegen die Todesstrafe überhaupt gerichtet. Ueber sie sitzen wir hier nicht zu Gerichte.“

„Meine Gründe sollten den einzelnen Fall treffen,“ entgegnete der Präsident. „Auch wenn ich kein Gegner der Todesstrafe wäre, würde ich fürchten, in diesem Falle durch ein Todesurtheil eine Blutschuld auf mich zu laden, von der ich einst vor dem höchsten Richter Rechenschaft ablegen müßte.“

Der Rath Rohner konnte eine Bemerkung nicht unterdrücken.

„Ich kenne keinen höheren Richter, als das Gesetz und mein Gewissen.“

„Das Gewissen ist eben die Stimme des höheren, des göttlichen Richters, die in uns laut wird,“ sagte der würdige Präsident.

„Des göttlichen Richters?“ fuhr der Rath auf. „Und nach welchen Gesetzen sollte der richten?“

„Nach denen des ewigen göttlichen Rechts.“

„Von denen also unsere menschlichen Gesetze abweichen?“

„Wie oft nur zu sehr!“

„Das wollte ich hören. Ich habe es freilich schon oft genug hören müssen: Gott, göttliches Recht, ewige Vergeltung! Ei, meine Herren, wenn Sie von diesen sublimen Dingen sprechen, wenn Sie darnach als Richter entscheiden wollen, so müssen Sie sie doch vor Allem kennen, und eben so gut und genau kennen, und noch genauer, als unsere menschlichen Gesetze. Und woher kennen Sie denn solche göttliche Gesetze, wenn ich fragen darf? Und wenn Sie sie kennen, warum begeben Sie sich dann nicht lieber heute als morgen zu unserm Monarchen und eröffnen ihm: Wir haben Gott gehört und er hat uns seine Gesetze offenbart, und dagegen sind die Gesetze, die Du uns gegeben hast, nichts als himmelschreiendes Unrecht, und Deine Regierung ist nichts als ein erbärmliches, sündhaftes Erdenregiment, und daher fort mit Deinen Gesetzen und Deinem Regimente und Dir selbst! – Und von Blutschuld höre ich sprechen! Darauf habe ich nur ein Wort: Wohlan, ich nehme sie auf mich!“

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_004.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)