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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Sie hob das Kreuz auf und steckte es in eine Tasche ihres Kleides; dann öffnete sie die Thür des Schlafzimmers, um hineinzutreten. Sie trat hinein, flog aber im selben Augenblicke erschrocken zurück.

„Mein Gott!“

Sie war blaß wie eine Leiche geworden und zitterte, daß sie kaum das Licht halten konnte.

„Was war das? Das war ja entsetzlich!“

Was war es, was sie so erschreckt hatte?

In dem Schlafzimmer der Präsidentin stand ein Sopha. Auf das Sopha fiel der volle Schein des Lichtes der Eintretenden. Der Schein des Lichtes beleuchtete voll ein Paar, das sich in dem Sopha umarmt hielt. Es waren die schöne Gräfin Auguste von Göppingen und der schöne Rittmeister Baron Richter. Sie hatten in dem Feuer ihrer Umarmung den leichten Schritt des jungen Mädchens nicht nahen hören. So waren sie in ihrer Umarmung überrascht.

„Das ist ja entsetzlich!“ rief das unschuldige Kind, erbleichend, zitternd an allen Gliedern.

Sie flog auf den Tod erschrocken zurück; sie konnte in dem Corridor nicht mehr, sie konnte gar nicht mehr allein bleiben, denn eine entsetzliche Angst hatte sie ergriffen. Sie flog in das Vorzimmer, zu dem Ballsaale zurück. Sie mußte wieder zu Menschen, zu schützenden, zu redlichen Menschen, unter denen sie vor dem erschreckenden Anblicke einer sündhaften heimlichen Umarmung zwischen einem verheiratheten Manne und einem frivolen Mädchen sicher war. Was kümmerte sie ihr zerrissenes Kleid? Sie vergaß Alles, außer dem Einen, dem Anblick, der sie zum Zittern gebracht hatte, über den sie noch immer erbebte.

Die Kammerjungfer war unterdeß zurückgekommen, sie war ihr nachgeeilt und erreichte sie im Vorzimmer.

„Darf ich jetzt bitten, gnädiges Fräulein?“

„Nein, nein, nicht zurück. Machen Sie nur hier, nur rasch.“

„Ah, das gnädige Fräulein wollen den Galopp nicht versäumen, den die Musik da gerade beginnt.“

„Machen Sie nur rasch!“

Der Schaden war jetzt doch mit Stecknadeln zu heilen. Er wurde unter fliegender Eile geheilt.

Antonie stürzte in den Ballsaal zurück. Sie hatte die Kammerjungfer nach dem gefundenen Diamantenkreuze fragen wollen, hatte es aber in ihrem Schreck, in ihrer Angst vergessen. Sie hatte ja Alles vergessen, außer jenem Einen. Es war dem armen, unschuldigen, unerfahrenen Kinde wirr im Kopfe geworden. Sie war unschlüssig in dem hellen, lauten, bunten Saale, ob sie nicht in ein Nebenzimmer gehen solle, in dem sich ihr Vater befand, um ihn zu bitten, daß er mit ihr nach Hause fahren solle. Da stand der kleine Lieutenant von den blauen Husaren vor ihr.

„Mein Fräulein, schenken Sie mir diesen Galopp?“

Er war so hübsch, so schmuck und tanzte so schön. Als sie vorher mit ihm getanzt, war in dem ganzen Saale nur eine Bewunderung des reizenden Paares gewesen. Er war auch so bescheiden, und er war erst Lieutenant, und kein verheiratheter Rittmeister, und er führte sie in die helle, schützende Gesellschaft zurück: er selbst war ihr Schutz. Sie nahm seinen Arm und folgte ihm in die Reihe der Tanzenden. Sie tanzte mit ihm.

Das reizende Paar flog in dem beflügelten Tanze wieder wie beflügelt dahin. Die feinen Füße schienen den Parketboden nicht zu berühren. Die leichten, schwebenden, anmuthigen Bewegungen schienen die eigensten, natürlichsten Bewegungen ihrer freien Glieder zu sein. Die entzückte Bewunderung Aller folgte ihnen wieder.

Zwischen dem Ja und Nein einer Frau, sagt, wie ich meine, Jean Paul irgendwo, gibt es nicht Zwischenraum genug für den Knopf einer Stecknadel.

Wie hätte in das fröhliche Herz des unschuldigen Kindes nicht bald wieder das volle Glück einziehen sollen? Und in dem Glücke vergaß sie zu dem, was sie schon vergessen hatte, auch den Schreck, der sie das Andere hatte vergessen lassen. Sie sollte mit Entsetzen wieder daran erinnert werden, an Alles.

Die schöne Gräfin Auguste von Göppingen war ebenfalls in den Saal zurückgekehrt. Der Regierungsrath, der auf dem Polizeipräsidium arbeitete, empfing sie an der Thür. Er schien auf sie gewartet zu haben.

„Gräfin, wie sehen Sie so verstört aus! Rasch im Galopp zu dem Galopp, ehe man es gewahrt.“

Ein Polizeirath hat allerlei Zwecke und allerlei Mittel.

Die schöne Gräfin ließ sich von ihm in den Galopp ziehen. Um ihrem Gesichte die Farbe, ihren Augen den Glanz wieder zu gewinnen, tanzte sie rasch, wild, über das Maß der Grazien hinaus. Ihr Tänzer konnte ihr kaum folgen; er konnte ihr nicht mehr folgen. Sie selbst konnte nicht weiter, sie erbleichte, sie taumelte. Der schnelle Wechsel der heftigsten Bewegungen ihres Innern, das rasche Drehen des Tanzes, die Hitze des Saales hatten auf einmal zu sehr auf sie eingewirkt; ein Schwindel ergriff sie, sie drohete umzusinken.

Die Arme einer Nachbarin griffen sie stützend auf. Antonie Rohner war die Nachbarin. Das Kind sah plötzlich das erbleichende Gesicht neben sich. Der Schreck der Erscheinung erfaßte sie wieder, sie erblaßte selbst. Aber ihr schönes Herz öffnete ihre Arme, die Sinkende aufzufangen. Sie umfing sie, sie hielt sie aufrecht. Sie konnte sogar die schöne Dame, die eben verrätherisch an einem verräterischen Herzen gelegen hatte, an ihr reines Herz drücken, um sie desto fester zu stützen, desto eher das schwindende Leben in sie zurückzuführen.

Aber die schöne, stolze Gräfin war auch eine kräftige Dame. Ihr Körper hatte jenen inneren und äußeren Eindrücken nur auf einen Augenblick erliegen können. Ehe die Umstehenden sich besinnen, ehe die Flacons sich öffnen konnten, stand sie schon wieder aufrecht, konnte sie ihrem Tänzer wieder den Arm bieten, aus den Armen des freundlichen Kindes sich losreißen. Sie that es, mit einem kalten, stolzen Blicke gezwungenen Dankes auf das Mädchen. Der Blick rief den Schreck, die Verwirrung in das Herz und auf das Gesicht des Kindes zurück. Sie zitterte an dem Arm des kleinen Lieutenants von den blauen Husaren. Er mußte sie verwundert ansehen. Ihre Nachbarinnen mußten es nicht minder.

„Ach, mein süßer Engel, Sie haben sich erschrocken,“ lief die alte Generalin herbei.

Aber die schöne Gräfin Göppingen hatte sich in dem nämlichen Augenblicke noch mehr erschrocken; dann freilich hatte eine fast satanische Freude sie durchbebt.

Der Regierungsrath hatte sie zu einem Sessel führen müssen. Dort musterte die Dame ihren Anzug, ob er durch das Begegniß nicht gelitten habe. Auf einmal erblaßte sie.

„Mein Gott!“

„Was ist Ihnen, Gräfin?“

„Mein Diamantkreuz ist fort.“

„Es wird Ihnen bei dem kleinen Unfall entfallen sein.“

„Unzweifelhaft.“

„Ich suche es.“

Er hatte zu der Stelle des kleinen Unfalls nur drei Schritte zu gehen. Sie war leer, er suchte, und fand das Gesuchte nicht. Er kehrte zu der Gräfin zurück.

„Ich finde nichts. Vermissen Sie das Kreuz erst in diesem Augenblick?“

„Gewiß.“

Sie war bei der Frage erröthet; aber sie konnte sie bejahen. Sie hatte vorher wohl an nichts weniger als an ihr Diamantkreuz gedacht, einen wie hohen Werth es auch haben mochte.

„Sonderbar,“ sagte der Polizeirath, „am Boden liegt nichts, und wenn es Jemand aufgehoben hätte, ohne sich zu melden – nein, nein – in dieser Gesellschaft – es ist nicht möglich.“

„Aber sehen Sie dort?“ rief auf einmal die Dame. „Die kleine Rohner! Sie ist so blaß – man ist um sie beschäftigt. – Mein Gott, was fällt mir da ein? – Sie wollten mir von ihr erzählen.“

Auch der Regierungsrath war auf einmal stutzig geworden.

„Sie lagen in ihren Armen. Sie hatte Sie an sich gedrückt. Ihre Hände waren mit Ihnen beschäftigt.“

„Aber eine Diebin! So jung, den besseren Ständen angehörig, und schon so verworfen, so abgefeimt!“

„O, meine Gnädige,“ versicherte der Regierungsrath, der im Polizeipräsidium arbeitete, „sie ist lebhaft, eitel; davon ist der Leichtsinn nicht fern. Sodann, warum ist sie auf einmal so blaß, so erschrocken? Es ist vielleicht ihre erste That, wenigstens die erste in solcher Gesellschaft, von solcher Bedeutung. Sie ist über sich selbst erschrocken. Und endlich – ach, ich wollte Ihnen in der That vorhin in Betreff der kleinen Dame eine Mittheilung machen. Haben Sie nichts über ihren Bruder gehört?“

„Nichts,“ sagte die Gräfin.

„Es gehört hierher. Ich muß es Ihnen jetzt mittheilen. Wir

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_035.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)