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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

höher. Von unserem Fleischvorrathe konnten wir nicht essen, weil der Durst dadurch noch mehr gereizt worden sein würde. Einige Erleichterung – aber welche! – gewährten uns die rohen Kartoffeln, die wir in kleine Scheiben schnitten und sie im Munde behielten, um den brennenden Gaumen zu kühlen und die halb vertrocknete Zunge zu befeuchten. Der Sturm wüthete dabei fort, in gleicher Richtung, bis er den 27. nach Norden umsetzte und scharfe Kälte mit sich brachte.

„Wir waren nun völlig erschöpft aus Durst, aus Mangel an Schlaf und weil wir die Glieder nicht zu regen vermochten. Die Kälte, die nun hinzukam, brachte uns fast zur Verzweiflung. Am meisten litt meine arme Frau. Sie konnte sich gar nicht rühren und dabei erfror sie fast, abgesehen von dem Hunger und Durst, die sie folterten. Das Kind litt eben so und erhöhte unsern Jammer dadurch, daß es fast immer weinte, wir ihm aber keine Hülfe bringen konnten. So ging es fort bis zum 30. October. Da schneite und hagelte es. Um vier Uhr Nachmittags am 31. endlich erblickten wir ein Schiff, das gerade auf uns zu kam, eine holländische Barke. Sobald der Capitain uns bemerkt hatte, machte er Anstalten zu unserer Rettung, die mit Mühe, aber glücklich gelang. Alle Glieder schmerzten uns so, daß wir sie erst allmählich wieder gebrauchen konnten. Drei Tage lang konnte ich gar nicht gehen. Meine Frau war eine Woche lang krank, doch dankten wir Gott und dem menschenfreundlichen Capitain des holländischen Schiffes für unsere Rettung.“




Berliner Polizei.

I.

Die Eisenbahnen haben die Cultur selbst nach Hinterpommern, in das Land der Kassuben, getragen.

In Hinterpommern liegt das Dorf Goddentov mit dem Gute gleiches Namens. Auf letzterem wohnt der Baron von Goddentov, einer der reichsten und vornehmsten Adeligen Hinterpommerns.

Der Baron und die Baronin von Goddentov saßen eines Tages in einem wichtigen Gespräche beisammen. Sie waren Beide noch niemals in Berlin gewesen und waren doch Beide auch nicht mehr jung. Der Baron zählte einige funfzig, die Baronin einige vierzig Jahre. Der Baron hatte aber ein sehr erhebliches Bedenken gegen eine solche Reise nach Berlin. Er hatte nämlich viel von der Gefährlichkeit der Berliner Diebe gehört und fürchtete sich vor diesen. Die Baronin hatte vergeblich dieses Bedenken zu besiegen versucht. Alle Lust des Barons zur Reise war an ihm gescheitert. So war die Lage der Dinge, als der Baron und die Baronin eines Tages in einem wichtigen Gespräche beisammensaßen. Der Baron hatte die Neue Preußische Zeitung gelesen.

„Meine Gemahlin,“ sagte er darauf, „in dem Berlin sind doch sehr tüchtige Leute.“ Der Baron hatte das jedes Mal gesagt, wenn er die Zeitung gelesen hatte. Er hatte es gesagt in seiner Lust zu einer Reise nach Berlin, und die Baronin hatte ihm dann jedes Mal zugestimmt, um diese Lust in ihm desto heller anzufachen. Dann war aber jedes Mal das Bedenken des Barons mächtiger aufgetaucht. Heute versuchte sie einen anderen Weg. Sie war eine kluge Frau; sie galt für die klügste Dame des hinterpommerschen Adels. Aber auch der Verstand des Barons wurde unter dem Adel Hinterpommerns hochgeschätzt. Sie mußte daher sehr vorsichtig mit ihm verfahren.

„Ich wüßte nicht, mein theurer Baron,“ sagte sie etwas verächtlich.

Der Baron wurde pikirt.

„Meine Theure, wir können selbst hier in Hinterpommern noch von ihnen lernen.“

„Zum Beispiel, lieber Baron?“

„Sogar die Straßenjungen sind dort witzig, und der Witz der Berliner Eckensteher ist bekannt.“

„Der Adel Hinterpommerns wird doch die Berliner Straßenbuben und Eckensteher nicht zu Vorbildern nehmen sollen?“

„Ich werde Dir das gleich beweisen, Verehrteste. Erlaube mir nur erst, daß ich meine Pfeife anzünde; die Gedanken kommen mir dann besser.“

Der Baron klingelte. Der Bediente brachte dem Baron seinen Meerschaumkopf und der Baron ließ ihn sich anzünden. Die Baronin unterhielt sich unterdeß mit ihrem Mops.

Der Baron hatte angefangen zu rauchen. Es waren ihm also die Gedanken besser gekommen.

„Meine Theure,“ sagte er, „ich habe über die Sache nachgedacht. Es bleibt nur ein Mittel. Wir müssen doch endlich die Reise nach Berlin antreten.“

„Damit ich mich von der Bildung der Berliner Straßenbuben überzeugen soll?“

„Auch aus einem anderen Grunde, meine Liebe.“

„Ich wäre neugierig.“

„Die Eisenbahnen bringen vielen Besuch nach Kassuben; Alles kommt in unser Haus.“

„Ja, mein theurer Baron, unser Haus ist das erste und angesehenste im Lande.“

„Ja, meine Gemahlin, und es kommen zu uns die Präsidenten von Stettin und Cöslin.“

„Und der Oberpräsident, mein theurer Baron.“

„Und der commandirende General, meine Gemahlin.“

„Und selbst der Oberpräsident der Provinz Preußen.“

„Aber er ist nur ein Bürgerlicher. Und Alle, meine Theure, wenn sie hier sind, sprechen nur von Berlin. Selbst die Lieutenants und Regierungsassessoren, die wir in unserem Hause empfangen –“

„Sie am meisten, mein theurer Freund.“

„Und sie schnarren so vornehm dabei: „Waren Sie schon in Berlin, Baron? Noch nicht? Ah –!“ Oder: „Ah, meine Gnädigste, das müßten Sie in Berlin sehen!““

„Ja, Baron, unser schönes Hinterpommern wird über Berlin zurückgesetzt.“

„Und um nun, meine Theure, wie Du so schön sagst, auf der Höhe der Cultur zu stehen, werden wir doch wohl die Reise nach Berlin machen müssen.“

„Aber diese Hauptstadt der Intelligenz, Verehrtester, hat doch auch manche Schattenseiten.“

„Zum Beispiel, meine Gemahlin?“ fragte der Baron im Eifer des Gespräches.

„Die Berliner Diebe zum Beispiel –“ Die Baronin hatte den Würfel geworfen; aber mit Geschick zur richtigen Zeit. Sie stand einen Augenblick, den Athem anhaltend.

Der aufgeregte Widerspruchsgeist des Barons hielt an. Ein wenig veränderte er die Farbe; dann sagte er herzhaft: „Gewiß, aber sie haben auch eine gute Polizei in Berlin.“

„Ah, mein theurer Baron, auch die beste Polizei kann nicht Alles.“

„In Berlin kann sie Alles, ich versichere Dich.“

„Das ist ein großes Wort, lieber Baron.“

„Und dann, meine Theure, habe ich schon lange den Wunsch gehabt, einmal mit Dir selbst in Gerson’s Magazin zu gehen, um an Ort und Stelle Deine Toilette zu vervollständigen.“

„Freilich, mein lieber Baron, Du bedarfst auch eines neuen Meerschaumkopfes, und man soll sie am besten in Berlin bekommen können.“

„Wir müssen also der Cultur ein Opfer bringen, meine Gemahlin; denn ein Opfer bleibt diese Reise.“

Die Gedanken in dem Kopfe des Barons wirbelten oft wunderbar durcheinander, wie die Wolken, die er unterdeß aus seinem Meerschaumkopfe blies.

Der Cultur wurde das Opfer der Reise nach Berlin gebracht. Die Anstalten zu der Reise wurden getroffen. Ungeheuere Koffer und Schachteln wurden mit Kleidungsstücken angefüllt; große Kisten mit Gänsebrüsten und Danziger Goldwasser. Außerdem wurden mitgenommen der Kammerdiener des Barons, Joachim, und die Kammerjungfer der Baronin, Justine. So fuhren sie ab, in zwei Wagen des Barons bis Danzig, von da auf der Eisenbahn.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_101.jpg&oldid=- (Version vom 9.8.2023)